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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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Und da liegt das Problem: Die Leute glauben, sie brauchten diese Überzeugungen zum Leben, frönen so aber dem unbewussten Tod. Wenn also jemand sein Leben für eine religiöse Überzeugung hingibt, hat er sich dafür entschieden, nicht für einen Gott, sondern im Dienste einer unbewussten Urangst in den Tod zu gehen. Es ist also seine Angst, die ihn dazu treibt, genau daran zu krepieren, wovor er Angst hat. Kapierst du das? Die Ironie besteht darin, dass sie von den Sorgen, die sie sich um ihre Unsterblichkeitsprojekte machen, ins Grab gebracht werden, obwohl diese Unsterblichkeitsprojekte von ihrem Unbewussten doch gerade dazu erschaffen wurden, ihnen das Gefühl ihrer Einzigartigkeit vorzugaukeln und die Vorstellung vom ewigen Leben zu verkaufen. Da musst du aufpassen. Das ist meine Warnung an dich. Das ist meine Verkehrswarnung. Die Verdrängung des Todes treibt die Leute in ihr frühes Grab, und wenn du nicht aufpasst, reißen sie dich mit in den Tod.«
    Dads Körper versteifte sich mehr und mehr, und sein wilder Blick erweckte bange Erwartungen in mir, während er auf eine ehrerbietige Entgegnung meinerseits wartete. Ich blieb stumm. Manchmal gibt es nichts Höhnischeres als Schweigen.
    »Also, was denkst du?«
    »Ich verstehe nichts von dem, was du gerade gesagt hast.«
    Er schnaufte vernehmlich, als wäre er gerade mit mir auf dem Rücken ein paar Marathons gelaufen. In Wirklichkeit hatte seine Ansprache einen so tiefen Eindruck in meinem Hirn hinterlassen, dass ein Chirurg möglicherweise heute noch die Spuren sehen könnte. Und nicht nur, weil damit die Saat gelegt war, die es mir später unmöglich machte, irgendeiner meiner Empfindungen oder Ideen zu vertrauen, die man als spirituell bezeichnen könnte, sondern weil es keinen verstörenderen und unangenehmeren Anblick gibt als einen Philosophen, der sich in die Ecke philosophiert hat. Und das war der Abend, an dem ich zum ersten Mal einen ganz klaren Blick in seine Ecke werfen konnte, seine schreckliche Ecke, seine traurige Sackgasse, in der Dad sich eingeimpft hatte, dass ihm niemals etwas Mystisches oder Religiöses widerfahren würde, damit er sich, selbst wenn Gott heruntersteigen und direkt vor seiner Nase Boogie tanzen würde, nie gestatten würde, daran zu glauben. Das war der Abend, an dem ich verstand, dass er nicht nur ein Skeptiker war, der nicht an einen sechsten Sinn glaubte, sondern ein Über-Skeptiker, der auch den anderen fünf Sinnen nicht traute.
    Plötzlich warf er mir seine Serviette ins Gesicht und murmelte dumpf: »Weißt du, was? Ich wasche meine Hände in Unschuld, was dich betrifft.«
    »Dann vergiss die Seife nicht«, gab ich zurück.
    Das ist ja nun nichts Besonderes - Vater und Sohn, zwei Generationen von Männern, die sich auseinanderleben. Und dennoch dachte ich daran zurück, wie es war, als ich noch ein Kind war und er mich auf seinen Schultern zur Schule trug, manchmal bis ins Klassenzimmer. Dann setzte er sich mit mir auf den Schultern aufs Lehrerpult und fragte die verschreckten Kinder: »Hat irgendwer meinen Sohn gesehen?« Wenn man das Damals mit Heute vergleicht, muss man einfach traurig werden.
    Der Kellner kam und fragte: »Kann ich Ihnen noch etwas bringen?« Dad durchbohrte ihn mit einem Blick. Der Kellner trat den Rückzug an.
    »Gehen wir«, sagte Dad barsch.
    »Ist mir recht.«
    Wir nahmen unsere Mäntel von den Stühlen. Entgeisterte Blicke folgten uns zur Tür. Wir gingen in die kalte Nachtluft hinaus. Die Blicke blieben im warmen Restaurant.
    Ich wusste, was ihn so aufwühlte. Auf die ihm eigene paradox nachlässige Art, hatte er sich doch immer merklich darum bemüht, mich zu formen. Dies war der erste Abend, an dem er klar erkannte, dass ich mit der Form, die er sich für mich vorstellte, nichts zu tun haben wollte. Er sah mich hineinspucken, und das kränkte ihn. Das Problem ist, Erziehung war die erste große Schlacht in unserer Beziehung, unser fortwährendes Duell, weswegen er stets hin- und hergerissen war, ob er das ganze öffentliche Schulsystem niederbrennen oder mich einfach dorthin abschieben sollte. Dadurch, dass ich freiwillig von der Schule abgegangen war, hatte ich eine Entscheidung getroffen, die für ihn nicht nachvollziehbar war. Darum hielt er mir diesen Vortrag: Nach all den wirren und widersprüchlichen Lektionen, mit denen Dad mich über die Jahre hinweg bombardiert hatte, deren thematische Spannweite von der Schöpfungsgeschichte bis zur Bratensoße, vom Fegefeuer bis zu Nippelringen

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