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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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verbleiben würde, wurden die Stimmen immer weniger, bis schließlich nur noch eine übrig blieb: die meiner Mutter. Der Rest der Stadt schrieb mich als Holzklotz ab, aber meine Mutter las mir weiter vor. Meine Mutter, eine Frau, die erst wenige Jahre zuvor ihr Heimatland verlassen und noch nie in ihrem Leben ein englisches Buch gelesen hatte, fraß sich nun durch Hunderte am Stück. Das hatte die unerwartete Nebenwirkung, dass sie nicht nur meinen Verstand mit Wörtern, Ideen, Gedanken und Empfindungen anreicherte, sondern auch den ihren. Es war, als würden große Lkw voller Wörter in unsere Köpfe fahren und uns ihre Ladung direkt ins Gehirn kippen. Diese ganze grenzenlose Vorstellungskraft erhellte und erweiterte unseren Geist mit den Schilderungen unglaublicher Heldentaten, schmerzvoller Liebesgeschichten, mit romantischen Beschreibungen ferner Länder, Philosophien, Mythen, Geschichten vom Aufstieg, Niedergang und Untergang ganzer Nationen, den Abenteuern von Kriegern, Priestern, Bauern, Monstern, Eroberern, Bardamen und Russen, so neurotisch, dass man sich am liebsten selbst die Zähne gezogen hätte. Es war ein grandioses Sammelsurium von Legenden, die meine Mutter und ich gleichzeitig entdeckten, und ihre Verfasser, Philosophen, Geschichtenerzähler und Propheten wurden zu Idolen für uns beide.
    Erst viel später, als die geistige Gesundheit meiner Mutter auf den Prüfstand kam, ging mir auf, was es in ihrem einsamen und frustrierten Geist angerichtet haben mochte, ihrem reglosen Sohn all diese erstaunlichen Bücher vorzulesen. Was bedeuteten ihr die Wörter in der qualvollen Stille meines Kinderzimmers, in dem die Frucht ihrer Lenden dalag wie eine Lammkeule? Ich stelle mir vor, dass ihr Verstand unter Wachstumsschmerzen gelitten haben muss wie ein Gefolterter auf der Streckbank. Ich stelle mir vor, wie sie das, was sie vorlas, zu verarbeiten versuchte. Ich stelle mir vor, wie diese brutalen, betörenden Wahrheiten die engen Grenzen ihrer festzementierten Anschauungen sprengten. Es muss eine langwierige, verstörende Tortur gewesen sein. Wenn ich daran denke, was sehr viel später aus ihr geworden ist, an dieses wahnwitzige Trauerspiel, das sie gegen Ende ihres jungen Lebens verkörperte, dann zeigt sich mir im Bild meiner Mutter das schmerzliche Entzücken einer Leserin, die zum ersten Mal von den vielfältigen Streifzügen der Seele hört und sie als ihre eigenen erkennt.
     

DAS SPIEL
    Kurz nach meinem achten Geburtstag wachte ich auf. Einfach so. Vier Jahre und vier Monate, nachdem ich ins Koma gefallen war, fiel ich wieder heraus. Nicht nur, dass meine Augen wieder sehen konnten, ich konnte sogar blinzeln. Ich öffnete den Mund und bat um Fruchtsaft - ich wollte etwas Süßes schmecken. Nur im Kino bitten Leute um Wasser, wenn sie wieder zu sich kommen. Im wirklichen Leben denkt man an Punsch mit Ananasstücken und Schirmchen.
    In der Woche nach meiner Rückkehr unter die Lebenden fanden sich viele erfreute Gesichter in meinem Kinderzimmer ein. Die Menschen wirkten aufrichtig beglückt, mich zu sehen, und alle sagten sie: »Schön, dass du wieder da bist«, als sei ich gerade von einer langen Reise heimgekehrt und würde gleich die Mitbringsel auspacken. Meine Mutter zog mich an sich und drückte nasse Küsse auf meine Hände, die ich nun selbst am Schlafanzug abwischen konnte. Sogar mein Vater war überglücklich; nun war er nicht mehr der unglückselige Stiefvater einer Kirmesattraktion, des Sagenhaften Schlafenden Jungen. Nur der kleine vierjährige Terry, der versteckte sich. Meine plötzliche Wiedergeburt war ein zu großer Schock. Immer wieder rief meine Mutter, er solle doch kommen und seinen Bruder kennenlernen, aber Terry ließ sich nicht blicken. Ich war noch zu müde und zu geschwächt, um gekränkt zu sein. Später, als alles den Bach runterging, musste ich daran denken, was es für die Entwicklung von Terrys Verstand bedeutet haben musste, neben einer Leiche aufzuwachsen und erzählt zu bekommen: »Die unheimliche Mumie da ist dein Bruder.« Es muss gespenstisch gewirkt haben, vor allem nachts, wenn das Mondlicht auf meine starren Gesichtszüge schien und meine reglosen Augäpfel ihn fixierten, als seien sie mit Absicht so stehen geblieben, nur um zu glotzen.
    Am dritten Tag nach meiner Wiederauferstehung platzte mein Vater herein und sagte: »Dann wollen wir dich mal wieder auf die Beine bringen!« Er und meine Mutter packten mich an den Armen und halfen mir aus dem Bett. Meine Beine

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