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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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weg!«
    »Das ist meine Leiter. Die hab ich ihm vergangenes Jahr geliehen, und als ich ihn danach gefragt habe, hat er geschworen, er habe sie mir zurückgegeben.«
    »Was ist mit den Jungs?«
    »O Gott... die Jungs.«
    »Was wird aus ihnen?«
    »Die werden schon klarkommen. Sie haben ja noch ihre Mutter.« »Aber diese Leiter werden sie nicht haben. Die gehört mir.« Dann schlief ich ein.
    Als ich in meinem Bett wieder aufwachte, war ich kränker denn je. Der Doktor meinte, indem ich einen halben Kilometer weit gerobbt sei, um meinen ersten Toten zu sehen, hätte ich meine Genesung zurückgedreht, so wie man eine Uhr zurückdreht, um länger etwas vom Tageslicht zu haben. Als er fort war, setzte sich meine Mutter zu mir auf die Bettkante, ihr angespanntes Gesicht war ganz nah an meinem, und mit beinahe schuldbewusster Stimme erklärte sie mir, sie sei schwanger. Ich war zu schwach, um ihr dazu zu gratulieren, ich lag einfach da, und sie streichelte mir die Stirn, was ich wirklich gern hatte und heute noch mag, auch wenn nichts Tröstliches darin liegt, sich selbst die Stirn zu streicheln.
     
    Während der folgenden Monate, in denen sich mein Zustand allmählich verschlechterte, setzte sich meine schwangere Mutter immer wieder zu mir und ließ mich ihren Bauch berühren, der entsetzlich anschwoll. Ab und an bekam ich einen Tritt oder vielleicht auch einen Kopfstoß des Fötus ab. Einmal, als sie dachte, ich sei eingeschlafen, hörte ich sie flüstern: »Wie schade, dass du ihn nie kennenlernen wirst.«
    Dann, genau dann, als ich am schwächsten war und der Tod sich schon die Lippen leckte, geschah etwas Unerwartetes.
    Ich starb nicht.
    Aber ich lebte auch nicht wirklich.
    Eher zufällig wählte ich die dritte Möglichkeit: Ich fiel ins Koma. Bye-bye, Welt, bye-bye, Bewusstsein, bye-bye, Helligkeit, Pech gehabt, Gevatter Tod, hallo, Äther. Das war eine verteufelte Angelegenheit. Ich suchte mir mein Versteck zwischen den weit ausgebreiteten Armen des Todes und den eng verschränkten Armen des Lebens. Ich war nirgendwo, im absoluten Nirgendwo. Vom Koma aus kommt man nämlich nicht einmal in die Vorhölle.
     

KOMA
    Mein Koma war vollkommen anders als alles, was ich je darüber gelesen habe: Ich habe gehört, dass Leute ins Koma gefallen sind, als sie gerade einen Witz erzählt haben, und als sie zweiundvierzig Jahre später wieder aufgewacht sind, haben sie die Pointe gesetzt.
    Die Jahrzehnte des Vergessens waren nur ein kurzer Augenblick des Nichts für sie, so als wären sie durch eines dieser Sagan-Wurmlöcher gereist, als hätte sich die Zeit um sich selbst gedreht, und sie wären in einem Sekundenbruchteil hindurchgeflogen.
    Die Gedanken, Visionen und Eindrücke, die ich in diesem Koma hatte, wiederzugeben, ist nahezu unmöglich. Es war nicht das Nichts, nein, es war allerlei Etwas (wenn man im Koma liegt, ist schon ein Sonstwas zu begrüßen), aber ich war zu jung, um mir einen Reim auf diese Erfahrung machen zu können. Ich kann allerdings sagen, dass ich so viele Träume und Visionen hatte, als hätte ich mir einen ganzen Canyon voll Peyote reingezogen.
    Nein, ich will erst gar nicht versuchen, das Unbeschreibliche zu beschreiben, ich sage nur so viel, dass ich dort Laute hörte, die ich nicht gehört haben kann, und Dinge sah, die ich nicht gesehen haben kann. Was ich jetzt sage, klingt verrückt - oder, noch schlimmer, mystisch, und du weißt, dass ich dazu eigentlich nicht neige. Also: Wenn man sich das Unbewusste als ein großes Fass vorstellt, dann ist der Deckel normalerweise offen, und in den Stunden, in denen man wach ist, füllt es sich mit Bildern, Lauten, Erfahrungen, negativen Schwingungen und anderen Wahrnehmungen. Wenn es aber nun keine Stunden gibt, in denen man wach ist, wirklich gar keine, und das monate- oder gar jahrelang, und der Deckel ist versiegelt, dann kann es sein, dass der ruhelose, nach Beschäftigung gierende Geist tief in dieses Fass hineintaucht, hinunter bis zum Grund des Unbewussten, und Dinge heraufholt, die vorangegangene Generationen dort zurückgelassen haben. Das ist eine Jung'sche Deutung - ich weiß nicht mal, ob C. G. Jung mir wirklich liegt, aber es gibt nur sehr, sehr wenige andere Theorien, die auch nur annähernd erklären könnten, was ich gesehen habe und doch nicht gesehen haben kann, oder bestätigen, was ich vernommen habe und doch nicht vernommen haben kann.
    Ich will es noch einmal anders versuchen: Es gibt da eine Kurzgeschichte von Borges, Das Aleph. Das

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