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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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Treiben, Schall und Wahn. Sicherlich, was ich gesehen habe, hat meine Sicht der Welt geprägt, doch ich glaube nicht, dass es das Geschenk eines höheren Wesens war. Ein Mädchen hat einmal zu mir gesagt, wenn ich das so sähe, würde ich mich willentlich einer göttlichen Botschaft verweigern, und sollte doch von religiöser Inbrunst durchdrungen sein. Das hört sich schön an, aber was soll ich machen? Ich habe es einfach nicht in mir. Wenn es Gottes Absicht war, mir mit all dem visuellen Getöse etwas mitzuteilen, hat er sich den Falschen ausgesucht. Meine Unfähigkeit, in Gottesfurcht zu entbrennen, ist mir in die DNS geritzt. Sorry, Gott. Aber des einen brennender Dornbusch ist womöglich des anderen Lagerfeuer.
    Sechs Monate etwa hielt dieser Zustand an. Draußen in der äußeren Welt wurde ich gewaschen und durch Schläuche ernährt, mein Darm und meine Blase wurden entleert, meine Gliedmaßen massiert und mein Körper in jede erdenkliche Position gebracht, an der meine Pfleger ihre Freude hatten.
    Dann passierte etwas: Das Aleph, sollte es tatsächlich der Auslöser gewesen sein, wurde unversehens und ohne viel Federlesens wieder in sein Versteck zurückgesaugt, und alle Visionen verschwanden auf einen Schlag. Wer weiß, welche Mechanismen dafür verantwortlich waren, dass sich der Deckel des Fasses auftat; jedenfalls war der Spalt so breit, dass eine Flut von Lauten zu mir hereinströmen konnte: Ich hörte wieder etwas, und ich war hellwach, wenn auch immer noch blind, stumm und gelähmt. Aber ich konnte hören. Ich vernahm die Stimme eines Mannes, den ich nicht erkannte. Er sprach laut und klar, und was er sagte, klang bedeutungsschwer, archaisch und furchterregend:
    »Verfinstert seien ihrer Dämmerung Sterne; sie harre auf das Licht, jedoch umsonst; die Wimpern der Morgenröte schaue sie nicht. Denn sie hat die Pforten an meiner Mutter Leib nicht verschlossen, nicht das Leid verborgen vor meinen Augen. Warum starb ich nicht vom Mutterschoß weg?«
    So gelähmt ich auch sein mochte, ich spürte, wie meine inneren Organe erbebten. Die Stimme fuhr fort:
    »Warum schenkt er dem Elenden Licht und Leben denen, die verbittert sind? Sie warten auf den Tod, der nicht kommt, sie suchen ihn mehr als verborgene Schätze. Sie würden sich freuen über einen Hügel; fänden sie ein Grab, sie würden frohlocken. Wozu Licht für den Mann auf verborgenem Weg, den Gott von allen Seiten einschließt?«
    (Später erfuhr ich, dass diese Stimme Patrick Ackerman gehörte, einem unserer Stadträte, der mir die Bibel vorgelesen hat, von Anfang bis Ende. Jasper, du weißt, dass ich nicht an Schicksal und Vorherbestimmung glaube, aber ich finde es dennoch hochinteressant, dass in dem Moment, in dem meine Ohren wieder aufnahmebereit waren, ausgerechnet diese Worte an sie drangen...)
    Als Bewusstsein und Hörvermögen wieder zurückgekehrt waren, wusste ich instinktiv, dass auch die Sehkraft bald folgen würde und danach die Fähigkeit, mich anzufassen. Kurz gesagt, das Leben. Ich war auf dem Weg zurück.
    Aber bevor ich vollends wieder präsent war, lag noch ein langer Weg vor mir, und dieser Weg war gepflastert mit Stimmen. Eine wahre Kavalkade - alte, verführerische Stimmen, junge, ausdrucksstarke Stimmen, raue Kehlkopfkrebsstimmen -, und die Stimmen waren voller Wörter, und die Wörter erzählten Geschichten. Erst viel später erfuhr ich, dass die ganze Stadt eine Art Gemeinschaftsprojekt aus mir gemacht hatte. Irgendein Arzt hielt es für dringend erforderlich, dass man mit mir sprach, und da unsere neue Stadt im Nirgendwo an chronischer Arbeitslosigkeit litt, tauchten diese semi-selbstlosen Seelen, die mit ihrer Zeit sonst nichts anzufangen wussten, in Heerscharen auf. Witzigerweise hat keiner von ihnen geglaubt, ich würde tatsächlich zuhören, wie sie mir später gestanden, als ich sie danach fragte. Aber ich hörte zu. Ich hörte nicht nur zu, ich sog ihre Worte geradezu in mich auf. Und ich sog sie nicht nur auf, ich merkte sie mir alle. Denn das entscheidende Detail war, dass sich mir - vielleicht aufgrund des Zustands des Blind- und Gelähmtseins, in dem ich mich gefangen fand - all die Bücher, die man mir vorlas, als ich im Koma lag, tief ins Gedächtnis einbrannten. Das war mein übernatürlicher Bildungsweg: Ich kann dir jedes Buch, das man mir in jener Zeit vorgelesen hat, Wort für Wort zitieren.
    Als klar wurde, dass ich nicht so bald sterben, sondern vielleicht auf ewig in diesem versteinerten Zustand

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