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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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waren klägliche, leblose Dinger, und so schleppten sie mich durchs Zimmer wie einen betrunkenen Freund, den sie aus der Kneipe eskortierten. Dann hatte mein Vater eine Idee. »He! Du hast wahrscheinlich ganz vergessen, wie du aussiehst!« Das stimmte. Irgendwo geisterte noch das verschwommene Bild vom Gesicht eines kleinen Jungen durch mein Gedächtnis, aber ich wusste nicht, ob ich das war oder einer, der mich einst gehasst hatte. Er zerrte mich ins Badezimmer, damit ich mich im Spiegel betrachten konnte, meine nackten Füße schleiften hinter mir her. Es war niederschmetternd. Selbst hässliche Menschen wissen, was schön ist, wenn sie nichts Schönes sehen.
     
    Terry konnte mir nicht ewig aus dem Weg gehen. Es war Zeit, dass wir einander offiziell vorgestellt wurden. Kurz nachdem alle anderen die Lust verloren hatten, mir zum Aufwachen zu gratulieren, kam er ins Zimmer, setzte sich auf sein Bett und wiegte sich rhythmisch vor und zurück, die Hände auf die Knie gepresst, als wollte er verhindern, dass sie Reißaus nahmen.
    Ich streckte mich auf meinem Bett aus, starrte an die Decke und zog das Laken über mich. Ich konnte meinen Bruder atmen hören. Mich selbst konnte ich auch atmen hören - jeder konnte mich hören: Die Luft rasselte durch meine Kehle. Ich kam mir peinlich und lächerlich vor. Ich dachte: Er wird schon sprechen, wenn er so weit ist. Meine Augenlider waren bleischwer, aber ich durfte es ihnen nicht gönnen, zuzufallen. Ich hatte Angst, das Koma könnte auf mich warten.
    Terry brauchte eine Stunde, um die Kluft zwischen uns zu überbrücken.
    »Du hast ganz schön lang geschlafen«, sagte er.
    Ich nickte, wusste aber nicht, was ich darauf sagen sollte. Der Anblick meines Bruders war überwältigend. Zärtlichkeit und der Wunsch nach einer Umarmung erfüllten mich, aber ich hielt es für besser, Distanz zu wahren. Am meisten machte mir zu schaffen, dass man uns nicht ansah, dass wir Brüder waren. Ich wusste, dass wir verschiedene Väter hatten, aber es schien, als hätte unsere Mutter kein einziges dominantes Gen in ihrem Körper. Meine Haut war gelblich und fettig, ich hatte ein spitzes Kinn, braunes Haar, leicht vorstehende Zähne und Ohren, die so flach an meinem Kopf anlagen, dass es aussah, als wollten sie jemanden vorbeilassen, Terry hingegen hatte dickes blondes Haar, blaue Augen, ein Lächeln wie aus der Zahnpastawerbung und eine helle Haut, gesprenkelt mit entzückenden orangefarbenen Sommersprossen. Seine Gesichtszüge waren von perfekter Symmetrie, wie bei einer kleinen Schaufensterpuppe.
    »Willst du mein Loch sehen?«, fragte er plötzlich. »Ich hab ein Loch im Garten gegraben.«
    »Später, Kumpel. Ich bin ein bisschen müde.«
    »Komm schon«, sagte mein Vater missmutig. Er stand in der Tür und starrte mich finster an. »Du brauchst frische Luft.«
    »Ich kann jetzt nicht«, sagte ich. »Bin zu schlapp.«
    Enttäuscht gab mir Terry einen Klaps auf mein verkümmertes Bein und lief nach draußen zum Spielen. Ich beobachtete ihn vom Fenster aus, ein kleines Energiebündel, das über Blumenbeete trampelte, ein Temperamentsbolzen, der rein- und raushüpfte aus dem Loch, das er gegraben hatte. Während ich ihm zusah, lehnte mein Vater in der Schlafzimmertür, mit brennenden Augen und väterlichem Hohnlächeln.
     
    Es war eben so: Ich hatte einen Blick in den Abgrund geworfen, in die schwefligen Augen des Todes, und nun, da ich wieder im Reich der Lebenden weilte, wollte ich da Sonnenschein? Wollte ich Blumen küssen? Wollte ich herumlaufen, spielen und jauchzen: »Schön ist es auf der Welt zu sein... ?« Nein, eigentlich nicht. Mich hielt es im Bett. Warum, ist nicht leicht zu erklären. Ich weiß nur, dass während meines Komas eine große Trägheit in mich eingesickert war, eine Trägheit, die durch mein Blut strömte und sich in meinem Innersten ablagerte.
    Nur sechs Wochen, nachdem ich so groggy wieder zu mir gekommen war, befanden meine Eltern und die Ärzte - obwohl mein Körper wegen der Schmerzen beim Gehen nun einem sich im Buschfeuer krümmenden Eukalyptus ähnelte -, es sei Zeit, mich wieder in die Schule zu schicken. Der Junge, der ein beträchtliches Stück seiner Kindheit verschlafen hatte, sollte sich ohne großes Aufsehen wieder in die Gesellschaft einfügen. Anfangs begegneten mir die anderen Kinder mit Neugier: »Hast du geträumt?« »Hast du es gehört, wenn die Leute mit dir gesprochen haben?« »Zeig mal, kann man noch sehen, wo du dich wund gelegen hattest?«

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