Vatermord und andere Familienvergnuegen
Whites Gesichtsausdruck konnte ich ablesen, dass er der Argumentation nicht folgen konnte, in der ich einen von Dads mitternächtlichen Monologen plagiierte. Was faselte ich da überhaupt? Warum kanzelte ich einen Mann ab, der aussah wie der verrottende Stumpf eines uralten Baums? Offenbar konnte ich alles Mögliche für einen leidenden Mitmenschen tun, nur nicht nett zu seinem Gott sein.
Hätte ich mal besser gesagt: »Warum hören Sie nicht auf? Sie müssen hier raus! Wechseln Sie die Schule! Wechseln Sie den Job! Wechseln Sie das Leben!«
Aber ich tat es nicht.
Ich ließ ihn weiter in seinem Käfig flattern.
»Na ja, du machst dich wohl besser auf den Weg zu deiner nächsten Stunde«, sagte er, und als ich sah, wie er so an seinem Schlips nestelte, brach ich fast in Tränen aus. Das ist das Problem, wenn Leute direkt vor der Nase des anderen leiden. Selbst wenn sie sich nur kratzen, ist der andere schon erschüttert.
Nicht lange danach holte Dad mich von der Schule ab. Das kam nicht so selten vor, wie Sie möglicherweise glauben. Nachdem sein Tagewerk - wach werden (eine Stunde), frühstücken (halbe Stunde), lesen (vier Stunden), gehen (zwei Stunden), starren (zwei Stunden) und blinzeln (fünfundvierzig Minuten) - vollbracht war, kam er mich abholen, um »etwas zu tun« zu haben.
Als ich am Schultor ankam, wartete Dad schon auf mich in seinen ungewaschenen Klamotten, und schlecht rasiert war er auch.
»Wer ist dieser grimmige Mann da, der mich anstarrt?«, fragte er, als ich bei ihm war.
»Wer?«
Ich drehte mich um und sah Mr. White aus dem Fenster des Klassenraums wie in Trance zu uns herüberstarren, als täten wir etwas Seltsames und Faszinierendes, und plötzlich fühlte ich mich wie das Äffchen an Dads Drehorgel.
»Das ist mein Englischlehrer. Sein Sohn ist gestorben.«
»Er kommt mir bekannt vor.«
»Kein Wunder. Du hast ihn irgendwann mal gut vierzig Minuten lang terrorisiert.«
»Tatsächlich? Wovon redest du?«
»Du bist in den Unterricht gekommen und hast ihn grundlos niedergemacht. Erinnerst du dich nicht?«
»Ehrlich gesagt - nein. Wer merkt sich so was schon? Du sagst, er hat seinen Sohn verloren?«
»Brett. Er war mein Freund.«
Dad sah mich überrascht an. »Das hast du mir nicht erzählt.«
»Er war ja schließlich nicht mein bester Freund«, lenkte ich ein. »Wir waren nur, na ja, uns haben dieselben Leute gehasst.« »Wie ist er gestorben? Überdosis?« »Selbstmord.«
»Selbstmord durch Überdosis?« »Er ist von der Klippe gesprungen.«
Dad drehte sich wieder zu Mr. Whites traurigem Gesicht am Fenster um. »Vielleicht gehe ich mal hin und rede mit ihm.« »Bitte nicht.«
»Warum nicht? Der Mann trauert.« »Eben darum.«
»Eben darum«, stimmte Dad zu, wenngleich in einem völlig anderen Zusammenhang, denn kurz darauf strebte er auf das Fenster zu. Die beiden starrten einander durch die Scheibe an. Ich sah alles mit an. Ich sah, wie Dad ans Fenster klopfte. Ich sah, wie Mr. White das Fenster öffnete. Ich sah, wie sie miteinander redeten, freundschaftlich zuerst, dann ernster, dann weinte Mr. White, und Dad hatte seinen Arm durchs Fenster gestreckt und die Hand auf Mr. Whites Schulter gelegt, wenn auch aus einer unbequemen, unnatürlichen Position. Dann kam Dad wieder zu mir herüber, die Lippen gespitzt, als würde er pfeifen, obwohl er es nicht tat. Er spitzte nur die Lippen.
Nach diesem eigentümlichen Zwiegespräch verlor Mr. White im Unterricht den Verstand. Natürlich wurde von seinem Zusammenbruch kein Lehrer überrascht, mochten sie noch so oft nach Luft schnappen und behaupten: »Ich kann es gar nicht glauben!«, und dabei sahen sie noch nicht einmal das, was mir sofort ins Auge sprang: Mr. Whites plötzlicher Ausbruch trug unverkennbar die Handschrift von Dad.
Und so trug es sich zu: Eines Morgens kam Mr. White in die Klasse mit dem Gesicht wie ein Daumen, der zu lange im Badewasser gelegen hatte. Dann begann er den Unterricht damit, dass er mit weit aufgerissenen Augen und durchbohrendem Blick einzelne Schüler lange fixierte, ehe er zum nächsten überging. Niemand war ihm gewachsen. Einem Scheinwerferpaar wie seinem hält niemand stand. Man konnte nur noch den Blick senken und warten, dass er vorüberging wie der Engel des Todes. Er stand an sein Pult gelehnt, dieser leere Mann mit den Röntgenaugen. Es war noch früh am Morgen, und ich erinnere mich, dass die Fenster geöffnet waren; ein milchiger Nebelschleier wehte herein, und die Luft war so
Weitere Kostenlose Bücher