Vatermord und andere Familienvergnuegen
Scheiße! Plötzlich hörte ich die penetrante Stimme meines Vaters: Ich würde versuchen, den Menschen zu vergöttern, weil ich Gott nicht verkraften könne. Ja, vielleicht. Vielleicht strebte ich nach Selbst-Transzendenz und projizierte etwas auf diese hochgewachsene, üppige Frau, um mich aus meinen einsamen Verzweiflungsexzessen zu befreien. Schön. Das war mein gutes Recht. Aber es wäre mir lieber gewesen, ich hätte meine unterschwelligen Motive besser verdrängen können. Ich wollte meine Lügen einfach so genießen wie alle anderen auch.
Ich konnte an nichts anderes denken als an sie und ihr Aussehen. Ihr rotes Haar zum Beispiel. Aber war ich so primitiv, dass ich mich von Haaren verhexen ließ? Also wirklich. Haare! Es sind bloß Haare! Das haben alle! Sie steckt sie hoch, sie trägt sie offen. Na und? Und warum keuchte ich vor Ergötzen angesichts ihrer übrigen Bestandteile? Einen Rücken, einen Bauch oder eine Achselhöhlen hat doch jeder? Diese pingelige, detailbesessene Fixierung ist mir noch jetzt, während ich dies niederschreibe, peinlich, aber ich nehme an, so anormal ist sie auch wieder nicht. So ist es eben bei der ersten Liebe. Man trifft den Gegenstand seiner Liebe, und unverzüglich beginnt eine Leere in einem zu schmerzen, eine Leere, die immer da ist, die man aber erst bemerkt, wenn ein anderer daherkommt, den Stöpsel rauszieht und dann damit wegläuft.
Eine Weile lang waren die Rollen in unserer Beziehung einfach zu bestimmen. Ich war der Liebende, der Nachstellende, der Sonnenanbeter. Sie ließ sich lieben, nachstellen, anbeten.
So vergingen einige Monate.
Mr. White begann gleich nach Bretts Selbstmord wieder zu unterrichten. Das war keine gute Entscheidung. Er machte nicht das, was jeder nach einer persönlichen Tragödie machen sollte: fliehen, sich einen Bart wachsen lassen, mit einem halb so alten Mädchen schlafen (es sei denn, man ist erst zwanzig). Mr. White tat nichts dergleichen. Er kam einfach zum Unterricht wie vorher. Er war noch nicht einmal so vernünftig, Bretts Pult wegschaffen zu lassen - es blieb einfach stehen, unbesetzt, und das konnte dann wirklich keiner mehr ertragen.
An seinen besseren Tagen sah er aus, als sei er aus dem Tiefschlaf geweckt worden, meistens aber, als habe man ihn gerade exhumiert. Er brüllte nicht mehr. Plötzlich mussten wir uns anstrengen, ihn überhaupt zu hören, so wie einen schwachen Puls. Obwohl er offensichtlich in einem Maß trauerte, dass er fast schon als Trauerkarikatur durchging, zeigten die Schüler (kaum überraschend) wenig Mitgefühl. Ihnen fiel nur auf, dass er, der zuvor von einer wütenden Professionalität erfüllt gewesen war, nun vollkommen abwesend wirkte. Einmal verlor er die Aufsätze, die die Klasse geschrieben hatte. Kraftlos deutete er auf mich, sagte: »Die sind irgendwo in meinem Auto, Jasper, geh mal nachsehen« und warf mir die Schlüssel zu. Ich ging zu seinem Auto, einem staubbedeckten Volkswagen. Drinnen fand ich leere Essensbehälter, feuchte Kleidung und eine Garnele, aber keine Aufsätze. Als ich mit leeren Händen zurückkam, hatte er für die Klasse nur ein übertriebenes Achselzucken übrig. So war er. Doch wenn die Klingel ertönte und die Schüler hastig ihre Bücher in die Taschen stopften, packte Mr. White schneller zusammen als alle anderen. Es war fast wie ein Wettbewerb, den er jetzt immer gewann. Trotzdem machte er den Job weiter, einen elenden Tag nach dem anderen.
Einmal bat er mich, nach dem Unterricht noch zu bleiben. Die anderen zwinkerten mir zu, um anzudeuten, dass ich Ärger bekäme und dass sie das freute. Aber Mr. White wollte nichts weiter als das Rezept des Schokoladenkuchens, den Brett und ich an jenem Tag gemacht hatten. Ich sagte ihm, ich hätte es nicht. Mr. White nickte viel zu lange.
»Glaubst du an die Bibel, Jasper?«, fragte er plötzlich.
»Genauso wie ich an den Hund von Baskerville glaube.«
»Ich verstehe.«
»Das Problem ist, dass Gott in den meisten Fällen, in denen er angeblich der Held sein soll, als Schurke dasteht. Schauen Sie sich doch an, was er Lots Frau angetan hat. Welches göttliche Wesen lässt denn die Frau eines Mannes zur Salzsäule erstarren? Was hat sie verbrochen? Dass sie sich umgedreht hat? Sie müssen zugeben, dass er ein hoffnungslos in der Zeit gefangener, aber keinesfalls erhabener Gott ist; andernfalls hätte er die Urväter dadurch verblüfft, sie in einen Flachbildfernseher oder zumindest eine Litfaßsäule zu verwandeln.«
An Mr.
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