Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
Vom Netzwerk:
gesagt, niemand würde einen dünnen Mann hassen. Niemand, dachte ich jetzt, höchstens hungrige Würmer.
    Die Zeit verstrich. Die Sonne zerging auf ihrer Wanderung am Himmel wie eine goldene Pastille. Die ganze Zeit über beobachtete ich Mr. White. Er stach so hell und strahlend von der Masse ab, als sei er in gelbes Licht getaucht. Er durchlitt die schlimmste öffentliche Demütigung: Durch Vernachlässigung oder elterliches Versagen hatte er seinen Sohn verloren, so sicher, als hätte er ihn auf dem Dach seines Autos abgelegt und nicht daran gedacht, ihn vor dem Losfahren wieder herunterzunehmen.
    Nach der Predigt ging der Rektor, Mr. Silver, zu Mr. White und legte ihm die Hand auf die Schulter. Diese fuhr heftig zusammen und schüttelte die Hand ab. Als er wegging, dachte ich: Tja, Brett, da geht dein Vater, da geht er hin, um deine eingefallenen Hemden und deine leeren Hosen wegzupacken.
    Das hab ich wirklich gedacht.
    Als wir wieder in der Schule waren, mussten sich alle auf dem Schulhof versammeln. Ein Schulpsychologe hielt einen Vortrag über Selbstmord bei Jugendlichen. Er bat uns alle, die Hand nach gefährdeten Altersgenossen auszustrecken und die Anzeichen wahrzunehmen. Die Beschreibung, die er von einem selbstmordgefährdeten Teenager lieferte, breitete sich in kleinen Schockwellen durch die Menge aus. Sie traf auf jeden Einzelnen hier zu. Das gab ihnen zu denken. Es klingelte, und alle machten sich auf den Weg zum Unterricht, alle, bis auf unsere Klasse. Oben war entschieden worden, dass wir für die Infinitesimalrechnung einfach zu niedergeschlagen seien. Auch ich war etwas durcheinander. Ich konnte Bretts Gegenwart spüren. Ich sah ihn auf dem Podium, ich sah sein Gesicht in der Menge. Ich war sicher, dass ich sehr bald seinen Kopf auf meinem eigenen Hals sehen würde. Ich wusste, dass ich hier wegmusste, ich musste diesem Ort den Rücken kehren, ohne mich umzublicken. Ich sah, dass das Schultor weit offen stand, und die Versuchung war groß. Und wenn ich einfach wegliefe? Oder noch besser: Wenn ich wegginge?
    Meine Tagträumereien wurden von metaphysischen Schuldzuweisungen unterbrochen. Mehrere Schüler diskutierten Bretts derzeitigen Aufenthaltsort. Wo war er jetzt? Einige meinten, er sei im Himmel; einige vermuteten ihn wieder dort, wo er angefangen hatte, in subarktischer Dunkelheit, wo er sich fragte, wann er in der Reinkarnationsschlange einen Platz vorrücken würde. Dann sagte jemand, offensichtlich dem Katholizismus zugewandt: »Seine Seele wird für immer in der Hölle brennen«, und ich konnte einen derart scheußlichen Gedanken nicht so stehen lassen, also sagte ich: »Ich weiß nicht, wer für dich denkt, aber du solltest ihnen jedenfalls sagen, sie müssten sich mal auf den neuesten Stand bringen.«
    »Na, was glaubst du denn, was mit Bretts Seele passiert ist?«
    »Gar nichts, weil er keine hat. Ich auch nicht. Und du auch nicht.«
    »Hab ich wohl!«
    »Hast du nicht!«
    »Doch!«
    »Nein!«
    »Du glaubst nicht an die Seele?« »Warum sollte ich?«, fragte ich.
    Ihr hättet sehen sollen, was ich für Blicke erntete! Es passiert Unglaubliches, wenn man sagt, dass man nicht an die Seele glaubt! Die Leute sehen einen an, als wäre es mit der Seele genau wie mit der Fee »Glöckchen«: Man muss an sie glauben, damit sie existiert. Ich meine, wenn ich eine Seele habe, ist es wirklich so eine, die meine moralische Unterstützung braucht? Ist sie dermaßen armselig? Die Menschen scheinen das zu glauben; wer die Seele anzweifelt, wird für sie zum Seelenlosen, zu dem einen, einsamen Geschöpf, das durch die Ödnis irrt ohne den magischen Stoff der Unendlichkeit...
     

3
    Ging ich also aus irgendeinem edelmütigen Gefühl der Loyalität gegenüber meinem toten Freund von der Schule ab? War es ein symbolischer Protest, den mein Herz mir vorschrieb? Schön wär's.
    Nein, so war es ganz und gar nicht. Ich mache besser reinen Tisch.
     
    Am Nachmittag der Beerdigung war ein Päckchen für mich in der Post. Es enthielt eine rote Rose und einen kurzen Brief. Beides war von Brett, meinem kalten, toten Freund.
     
    Lieber Jasper,
    in der Klasse über uns ist ein großes, schönes Mädchen mit langen, flammend roten Haaren. Ihren Namen weiß ich nicht. Ich habe nie mit ihr gesprochen. Ich schaue sie an, während ich das hier schreibe. Sie liest. Sie ist immer in ein Buch vertieft, sie blickt nicht auf, auch jetzt nicht, während ich hier sitze und sie in Gedanken ausziehe. Jetzt bin ich schon bei ihrer

Weitere Kostenlose Bücher