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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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Unterwäsche angekommen! Es kann einen rasend machen, dass sie einfach so weiterliest, in der Sonne sitzt und liest. Pudelnackt. In der Sonne. Bitte gib ihr diese Rose und sag ihr, dass ich sie liebe und immer lieben werde. Dein Freund Brett
     
    Ich faltete den Brief zusammen und legte ihn ganz unten in eine Schublade. Dann ging ich noch einmal zu Bretts Grab und legte die Rose darauf. Warum ich sie nicht dem Mädchen gab, das er liebte? Warum ich den letzten Wunsch eines toten Jungen nicht erfüllte? Tja, zum einen war ich nie sonderlich angetan von der Idee, in der ganzen Stadt rumzurennen und peinlich genau Anweisungen von Verblichenen auszuführen. Zweitens erschien es mir unnötig grausam, dieses arme Mädchen in einen Selbstmord zu verwickeln, ein Mädchen, das bis dahin nicht einmal gewusst hatte, dass er lebte. Wer auch immer sie war, ich vermutete, sie hatte auch so schon genug um die Ohren.
    Am nächsten Tag ging ich zu dem Plateau oberhalb der Schule - dem flachen, baumlosen, verdorrten Fleckchen Erde, wo sich die ältesten Schüler lässig arrogant herumflegelten. Sie fühlten sich allen anderen überlegen, als sei es eine Großtat, bis zum letzten Schuljahr durchzuhalten, vergleichbar etwa mit drei Dienstzeiten in Vietnam. Ich ging aus Neugier hin. Als Brett sich das Leben genommen hatte, war er in ein großes Mädchen mit rotem Haar verliebt gewesen. War sie der Grund? Wer war sie? Hatten ihn in Wirklichkeit gar nicht die Schikanen der Schulhofschläger umgebracht, sondern unerfüllte Sehnsucht? Insgeheim hoffte ich es, denn immer, wenn ich Harrison in der Schule sah, plagte mich der Gedanke, dass Brett seinetwegen gestorben war. Ich brannte darauf, einen besseren Grund für den Tod zu finden als diesen. Danach suchte ich. Nach einem Mädchen, für das es sich zu sterben lohnte.
    Mein Pech war, ich fand keinen.
     
    Ich habe zwar ein gutes Gedächtnis, aber ich bin der Erste, der einräumt, dass einige meiner Erinnerungen nicht unhinterfragt stehen bleiben sollten. Tatsache ist, dass ich mir gelegentlich durchaus etwas vormache, und wenn ich mir die Mädchen an meiner Schule so vorstelle, kann ich eigentlich nur davon ausgehen, dass ich sie romantisiere. Vor meinem geistigen Auge sehe ich sie alle als Sexy-Promi-Nutten-Musikvideo-Schulmädchen. Das kann nicht stimmen. Ich sehe sie in weißen, aufgeknöpften Blusen, aus denen schwarze Spitzen-BHs gucken, und in dunkelgrünen Miniröcken mit cremefarbenen Kniestrümpfen und schwarzen Schnallenschuhen. Ich sehe sie auf blassen Beinen durch schmale Flure gleiten, das Haar hinterherwehend wie Flammen in einem Windstoß. Auch das kann nicht stimmen.
    Sicher weiß ich nur eines: Das Mädchen, das Brett geliebt hatte, war groß, hatte sehr helle Haut und flammend rotes Haar, das ihren Rücken hinunterfloss, Schultern, glatt wie Eier, und Beine, lang wie eine Pipeline. Ihre Geheimwaffe aber waren ihre dunkelbraunen Augen, die oft hinter ungleichmäßig geschnittenen Ponyfransen verborgen lagen: Sie hatte einen Blick, der eine Regierung stürzen konnte. Außerdem hatte sie die Angewohnheit, mit der Zunge über die Stiftspitze zu fahren. Das war ungeheuer erotisch. Eines Tages stahl ich ihr Stiftemäppchen und küsste jeden einzelnen Kuli. Ich weiß, wie das klingt, aber es war ein sehr intimer Nachmittag, nur ich und die Stifte. Als Dad nach Hause kam, wollte er wissen, warum meine Lippen voller blauer Tinte waren. Weil sie in Blau schreibt, hätte ich ihm am liebsten erklärt. Immer blau.
    Sie war fast einen Kopf größer als ich, und mit dem flammenden Haar sah sie aus wie ein brennender Wolkenkratzer. Darum nannte ich sie Flammendes Inferno, aber das sagte ich ihr nie ins Gesicht. Wie auch? Dieses schöne Gesicht und ich waren einander nie vorgestellt worden. Ich konnte es nicht fassen, dass ich sie vorher nie gesehen hatte - vielleicht, weil ich jeden dritten Tag schulfrei nahm. Vielleicht tat sie dasselbe, nur an den anderen Tagen. Ich folgte ihr in einiger Entfernung über das gesamte Schulgelände und versuchte, sie aus jedem nur denkbaren Blickwinkel zu betrachten, um vor meinem inneren Auge das dreidimensionale Bild zusammenzusetzen, das meiner Fantasien würdig war. Manchmal, wenn sie sich so leichtfüßig über das Gelände bewegte, als wiege sie nur wenig mehr als ihr eigener Schatten, spürte sie meine Anwesenheit, aber ich war zu schnell für sie. Sobald sie sich umdrehte, tat ich so, als würde ich in den Himmel schauen und Wolken zählen.
    Aber

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