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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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meergeschwängert, dass man beinahe das Plankton schmecken konnte. Es herrschte eine bedrückende Stille, nur der Klang des Ozeans, der anbrandete und sich am Ufer brach, war zu hören. Die Schüler betrachteten Mr. White mit atemloser Hochspannung.
    »Es ist zum Lachen, dass man eine Ausbildung braucht, um Arzt oder Rechtsanwalt zu werden, aber nicht, um Kinder großzuziehen. Das darf jeder Trottel, ohne auch nur ein eintägiges Seminar mitzumachen. Du, Simon, dürftest morgen Vater werden, wenn du wolltest.«
    Alle lachten, verständlicherweise. Keiner konnte sich vorstellen, dass Simon jemals irgendwen zum Ficken finden würde.
    »Warum seid ihr hier? Nicht nur in dieser Klasse, sondern auf der Welt? Glaubt ihr, eure Eltern haben sich gefragt, warum sie euch bekommen haben? Hört euch doch an, was die Leute sagen, wenn sie ein Neugeborenes haben: >Es hat nie etwas Schöneres in meinem Leben gegebene >Es ist ein Wunder, blablablabla<. Sie haben es für sich gemacht, um sich ihre emotionalen Bedürfnisse zu erfüllen. Ist euch das schon mal aufgefallen? Dass ihr eine Projektionsfläche für die Bedürfnisse anderer Menschen seid? Wie ist euch dabei zumute?«
    Niemand sagte etwas, und das waren die einzig passenden Worte. Mr. White ging zwischen den Pulten hindurch in den hinteren Teil des Klassenraums. Wir wussten nicht, ob wir unsere Augen starr geradeaus richten, auf ihn richten oder sie uns ausreißen sollten. »Was wollen eure Eltern von euch?«, rief er von hinten. Wir wandten uns ihm zu. »Sie wollen, dass ihr lernt. Warum? Sie haben ehrgeizige Pläne mit euch. Warum? Sie betrachten euch als ihr beschissenes Eigentum, darum! Euch und ihre Autos, euch und ihre Waschmaschinen, euch und ihre Fernseher. Ihr gehört ihnen. Und keiner von euch ist für sie mehr als eine Gelegenheit, ihre gescheiterten Ambitionen zu erfüllen! Ha-ha-ha! Eure Eltern lieben euch nicht! Lasst es nicht zu, dass sie >Ich liebe dich< zu euch sagen! Es ist widerlich! Es ist eine Lüge! Es ist bloß eine billige Rechtfertigung dafür, euch zu manipulieren! >Ich liebe dich< heißt doch nichts anderes als >Du schuldest mir was, du kleiner Scheißer! Du repräsentierst den Sinn meines Lebens, weil ich ihn mir selbst nicht geben konnte, also versau mir das nichtk Nein, eure Eltern lieben euch nicht - sie brauchen euch. Und zwar verdammt viel nötiger, als ihr sie braucht, das kann ich euch sagen!«
    Die Schüler hatten noch nie etwas Ähnliches gehört. Mr. White stand da und schnaufte, als atme er durch einen verstopften Schlauch.
    »Herr Jesus, ich hau hier ab«, sagte er plötzlich und verließ den Raum.
    Es war keine Überraschung, dass sich innerhalb von Stunden die ganze Schule an diesem Skandal weidete, allerdings wurde das Geschehen völlig verzerrt wiedergegeben: Einige sagten, Mr. White habe seine Schüler angegriffen, andere, er habe eine ganze Horde von ihnen mit seinem Gürtel auspeitschen wollen. Und mehr als nur einige flüsterten das unaussprechliche Wort, das Menschen heutzutage so ungern (lies: »mit Begeisterung«) in den Mund nehmen: pädophil!
    Ich wünschte, dies wäre das Ende gewesen. Ich wünschte, ich könnte diese Geschichte mit dieser heiteren Anekdote enden lassen. Heiter? Verglichen mit dem, was noch kommen sollte, ja. Was sich am selben Nachmittag abspielte, steht für alle Zeiten unverrückbar fest als das offiziell Erste, das ich tief bereute, und es hält bis heute Platz eins. Alles Gute, das ich in meinem Leben bis dahin getan hatte, wäre dadurch beinahe zunichtegemacht worden, und mit jeder guten Tat habe ich seither versucht, mein Handeln zu sühnen.
    Und so kam es dazu: Ich folgte dem Flammenden Inferno den ganzen Tag über. Ich beobachtete sie, wenn sie in der Sonne sitzend las, ganz wie Brett es beschrieben hatte, und mit ihren kobaltblauen Fingernägeln zwanghaft an ihren Strümpfen zupfte. Ich folgte ihr durch das gesamte Schulgelände, während sie die Hand eines Mädchens, das ein Gesicht wie ein Spaten hatte, hielt. In der Mittagspause stand ich in der Kantine hinter ihr. Sie bestellte eine Fleischpastete, und als die Frau nicht hinsah, griff sie sich eine Handvoll Portionstütchen mit Tomatenketchup und schob sie in ihre Tasche, und nachdem sie die Gratisbeigaben auf anbetungswürdige Weise hatte mitgehen lassen, tänzelte sie davon.
    Am Nachmittag hängte ich mich an Mr. Smart, den Biologielehrer, der durch die muffigen Flure hinter ihr herhetzte. Als er sie erwischt hatte, hielt sie ihren Kopf,

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