Vatermord und andere Familienvergnuegen
war, dass ich ihn nicht mehr ertragen konnte: seine gnadenlose Negativität, die Art, wie er sein und mein Leben verwahrlosen ließ, dass er Bücher Menschen vorzog, die fanatische Liebe zu seinem Hass auf die Gesellschaft und seine unglaubwürdige Liebe zu mir, die krankhafte Besessenheit, mit der er mein Leben genauso unerquicklich machte wie seins. Mir wurde auch klar, dass ihm nicht erst nachträglich eingefallen war, mir das Leben so schwer wie möglich zu machen, nein, er nahm mich mit einem Fleiß auseinander, als bekäme er dafür Überstundenvergütung. Wo sein Kopf hätte sein sollen, hatte er einen Betonpfeiler, und das ertrug ich einfach nicht mehr. Ich finde, man sollte die Menschen in seinem Leben betrachten und sagen können: »Ich schulde dir mein Überleben« und: »Du verdankst mir dein Überleben«, und wenn man das nicht sagen kann, warum gibt man sich dann überhaupt mit ihnen ab? Wie die Dinge standen, konnte ich meinen Vater nur ansehen und denken: Tja, ich habe trotz deiner Einmischung überlebt, du Scheißkerl.
In seinem Wohnzimmer war das Licht an. Ich spähte durchs Fenster. Dad las Zeitung und weinte.
»Was ist los?«, fragte ich und öffnete die Schiebetüren.
»Was machst du hier drinnen?«
»Milch klauen.«
»Dann klau deine eigene Milch!«, sagte er.
Ich ging hinein und riss ihm die Zeitung aus der Hand. Es war eins der täglich erscheinenden Boulevardblätter. Dad stand auf und ging ins Nebenzimmer. Ich sah mir die Zeitung genauer an. In dem Artikel, den Dad gelesen hatte, ging es um Frankie Hollow, den kürzlich ermordeten Rockstar, dem ein irrer Fan nach einer Tour zwei Kugeln in die Brust und eine in den Kopf geschossen hatte, und dann noch ein Schuss, »weil das Glück bringt«. Seitdem hatte es die Meldung tagtäglich auf die Titelseite geschafft, obwohl nach Tag eins keinerlei neue Informationen hinzugekommen waren. An manchen Tagen brachten die Zeitungen dazu Interviews mit Menschen, die nichts wussten und auch nichts Erhellendes zu sagen hatten. Dann quetschten sie auch noch den allerletzten Blutstropfen aus der Story, indem sie in der Vergangenheit des toten Rockstars herumstocherten, und als dann nichts, aber auch gar nichts mehr zu berichten war, berichteten sie noch ein bisschen weiter. Wer druckt diesen Käse?, fragte ich mich, und dann: Warum weint Dad über den Tod eines Prominenten? Ich stand da, und mir schwirrten tausend bagatellisierende Bemerkungen durch den Kopf, während ich mir überlegte, ob ich ihm den Rest geben sollte. Ich entschied mich dagegen; Tod ist Tod, und Trauer ist Trauer, und selbst wenn Menschen auf die Idee kommen, um einen Prominenten zu weinen, den sie gar nicht persönlich kennen, verhöhnt man dennoch nicht sein trauriges Herz.
Als ich die Zeitung zuschlug, war ich noch ratloser als zuvor. Ich hörte den Fernseher im Nebenzimmer; es klang, als teste Dad, wie weit er die Lautstärke aufdrehen konnte. Ich ging zu ihm hin. Er sah sich eine Late-Night-Softpornoserie an, in der eine Detektivin Verbrechen aufklärte, indem sie ihre glatt rasierten Beine zeigte. Er schaute allerdings nicht auf den Bildschirm; er starrte in die kleine ovale Öffnung einer Bierdose. Ich setzte mich neben ihn. Eine Zeit lang sprachen wir nicht. Manchmal fällt schweigen leicht, und dann wieder ist es anstrengender, als Klaviere zu schleppen.
»Warum gehst du nicht ins Bett?«, fragte ich.
»Danke, Dad«, sagte Dad.
Ich saß da und versuchte, mir eine sarkastische Erwiderung einfallen zu lassen, aber wenn man zwei sarkastische Bemerkungen direkt nebeneinanderstellt, klingen sie einfach gehässig. Ich ging zurück durchs Labyrinth und zum Inferno, das in meinem Bett wartete.
»Wo ist die Milch?«, fragte sie, als ich zu ihr ins Bett kroch.
»Sie hatte einen Stich«, sagte ich, in Gedanken bei meinem Dad und dessen Stich. Anouk und Eddie hatten recht - er war wieder in einen depressiven Zustand gerutscht. Was war es diesmal? Warum grämte er sich wegen dieses Rockstars, von dem er bis dato nie gehört hatte? Würde er jetzt anfangen, jeden Todesfall auf Erden zu betrauern? Konnte man sich ein zeitaufwändigeres Hobby vorstellen?
Als ich am Morgen wach wurde, war das Inferno verschwunden. Das war etwas Neues. Wir hatten offensichtlich einen neuen Tiefstand erreicht - in den guten alten Zeiten hätten wir uns gegenseitig aus einem diabetischen Koma gerüttelt, um Bescheid zu sagen, dass wir gingen. Jetzt schlich sie sich davon, wahrscheinlich um der Frage »Was
Weitere Kostenlose Bücher