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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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machst du später?« aus dem Weg zu gehen. Meine Hütte war mir nie leerer erschienen. Ich vergrub meinen Kopf in meinem Kissen und schrie: »Sie hört auf, mich zu lieben!«
    Um mich selbst von dieser säuerlich riechenden Tatsache abzulenken, nahm ich mir die Zeitung und blätterte darin, nicht ohne das Gesicht zu verziehen. Ich habe unsere Tageszeitungen schon immer gehasst, hauptsächlich für ihre beleidigende Geografie. Auf Seite 18 zum Beispiel stößt man auf die Story über ein schreckliches Erdbeben in Peru oder sonst wo, was im Grunde eine Beleidigung ist; zwanzigtausend Menschen unter zerstörten Trümmern begraben und dann ein weiteres Mal verschüttet unter siebzehn Seiten Lokalgewäsch. Wer druckt diese Mundfäule?, fragte ich mich.
    Dann hörte ich eine Stimme. »Klopf, klopf«, sagte die Stimme.
    Und schon war ich genervt. »Steh nicht vor der Tür rum und sag: >Klopf klopf!<«, brüllte ich. »Würdest du dastehen und >Brrrrrng!< machen, wenn ich eine Klingel hätte?«
    »Was hast du?«, fragte Anouk beim Hereinkommen.
    »Nichts.«
    »Du kannst es mir sagen.«
    Sollte ich mich ihr anvertrauen? Ich wusste, dass Anouk Probleme mit ihrem eigenen Liebesleben hatte. Sie machte gerade eine unschöne Trennung durch. Genau genommen trennte sie sich immer gerade von irgendwem, von dem ich gar nicht gewusst hatte, dass sie mit ihm zusammen gewesen war. Wenn jemand einen geübten Blick für den Anfang vom Ende hatte, dann Anouk. Aber ich ließ es lieber sein, sie um Rat zu fragen. Manche Menschen spüren es, wenn man ertrinkt, und wenn sie einen Schritt nach vorn machen, um besser sehen zu können, treten sie einem unabsichtlich auf den Kopf.
    »Es geht mir gut«, sagte ich.
    »Ich möchte mit dir über die Depression deines Vaters sprechen.« »Dazu bin ich wirklich nicht in der Stimmung.« »Ich weiß, wie wir seine innere Leere füllen können. Seine Notizbücher!«
    »Was ich schon in seinen Notizbüchern gelesen habe, reicht für ein ganzes Leben. Seine Schreibereien sind nichts weiter als
    Flecken von den tropfenden Säften des Formfleischs in seinem Kopf. Da mache ich nicht mit!«
    »Musst du ja gar nicht. Das hab ich schon gemacht.«
    »Ach ja?«
    Anouk holte eins von Dads kleinen schwarzen Notizbüchern aus der Tasche und wedelte damit herum, als sei es ein Gewinnlos. Der Anblick des Notizbuchs hatte dieselbe Wirkung auf mich wie der Anblick von Dads Gesicht: Mich überkam eine ungeheure Müdigkeit.
    »Okay«, sagte Anouk, »hör dir das an. Sitzt du?«
    »Du siehst mich doch, Anouk!«
    »Okay! Okay! Lieber Gott, du hast vielleicht eine Stinklaune!«
    Sie räusperte sich und las vor: »Jeder macht genau das im Leben, wofür er vorgesehen ist. Schaut doch einfach mal genauer hin, wenn ihr einem Buchhalter begegnet - er sieht haargenau wie ein Buchhalter aus! Es hat noch nie einen Buchhalter gegeben, der aussah, als habe er Feuerwehrmann werden müssen, nie hat ein Verkäufer in einem Modegeschäft wie ein Richter ausgesehen oder ein Tierarzt, als gehöre er hinter die Theke von McDonald's. Auf einer Party lernte ich mal einen Mann kennen, und auf meine Frage: >Womit verdienen Sie Ihre Brötchen?<, antwortete er so laut, dass es alle hören konnten: >Ich bin Baumchirurg!<, einfach so, und ich trat einen Schritt zurück, damit ich ihn mir ansehen konnte, und verdammt noch mal, er entsprach haargenau dem Bild - er sah aus wie ein Baumchirurg, auch wenn ich zuvor nie einem begegnet war. Ich will damit sagen, dass absolut jeder ist, wie er sein soll, und das ist genau das Problem. Es gibt keinen Medienmogul mit Künstlerseele oder einen Multimilliardär mit dem delirierenden, glühenden Mitgefühl eines Sozialarbeiters. Aber was wäre, wenn man einem Milliardär etwas einflüstern könnte, das das delirierende, glühende Mitgefühl weckt, das in ihm schlummert, tief unten, wo das Einfühlungsvermögen versteckt ist, und man könnte in sein Ohr flüstern und dieses Einfühlungsvermögen anheizen, bis es entflammt, und dann tränkt man das Einfühlungsvermögen mit Ideen, bis es in Taten umschlägt? Ihm einen Anreiz geben, ihn wirklich stimulieren. Davon habe ich immer geträumt. Der Mann zu sein, der vermögende, einflussreiche Männer mit seinen Ideen anspornt. Das will ich sein - der Mann, der aufregende Ideen in ein gigantisches goldenes Ohr flüstert.«
    Anouk schloss das Notizbuch und sah mich an, als erwarte sie Standing Ovations. Und deswegen war sie so aufgeregt? Seine Megalomanie war nichts Neues

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