Vatermord und andere Familienvergnuegen
trübe Wasser aus einem Wasserhahn in Mexiko. Ich nahm den Deckel ab und schnupperte vorsichtig daran, irrationalerweise den Geruch saurer Milch erwartend. Es roch nach gar nichts. Ich drehte mich um und sah, wie sich ihr dünner Körper auf dem Bett ausstreckte. »Verschütte es nicht«, sagte sie, ehe sie mir ein weiteres ihrer vollendeten Lächeln zuteil werden ließ.
Ich stippte meinen Finger in das Glas, zog ihn schnell wieder heraus und lutschte daran.
Salzig.
Ich glaubte zu wissen, was das war. Aber konnte es wirklich das sein, was ich vermutete? Hielt ich wirklich und wahrhaftig ein Glas voll Tränen in der Hand? Ihren Tränen?
»Ach, Tränen, hm?«, sagte ich, als sammle jeder, den ich kannte, seine eigenen Tränen, als tue alle Welt nichts anderes, als Zeugnisse der eigenen Traurigkeit zu schaffen. Ich konnte mir vorstellen, wie sie das kleine Glas an ihre Wange drückte, während die feierliche Einweihungsträne am Glas hinunterrann wie der erste Regentropfen an der Fensterscheibe.
»Was willst du damit?«, fragte ich.
»Nichts.«
»Was soll das heißen, nichts?«
»Ich sammle einfach meine Tränen, das ist alles.«
»Komm schon. Da ist doch mehr dran.«
»Nein. Glaubst du mir nicht?«
»Absolut nicht.«
Sie starrte mich einen Moment lang an. »Okay - ich sag's dir, aber du darfst es nicht in den falschen Hals bekommen.« »Okay.«
»Versprichst du mir das?«
»So was kann man nur schwer versprechen. Woher soll ich wissen, ob ich es in den falschen Hals kriege oder nicht?« »Das sag ich dir dann.« »Okay.«
»Okay. Ich sammle meine Tränen, weil... ich sie Brian zu trinken geben will«, sagte sie.
Ich knirschte mit den Zähnen und starrte aus dem Fenster. Die ermatteten Herbstbäume sahen aus wie Schulterzucken in Gold und Braun. »Du liebst ihn immer noch!«, brüllte ich.
»Jasper!«, kreischte sie. »Du hast es in den falschen Hals bekommen!«
Ungefähr zwei Wochen später toppte sie diese Beleidigung mit einer weiteren. Wir waren in meiner Hütte und liebten uns, wobei wir diesmal einen höllischen Krach machten, und als legte sie es darauf an, meine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen, rief sie mittendrin seinen Namen. »Brian!«, stöhnte sie atemlos.
»Wo?«, fragte ich aufgeschreckt und begann, mich im Raum nach ihm umzusehen.
»Was machst du?«
Als ich meinen Irrtum erkannte, hörte ich auf damit, und sie bedachte mich mit einem Blick, in dem sie gekonnt Zärtlichkeit mit Abscheu verband. Bis heute sucht mich die Erinnerung an diesen Blick heim wie ein Zeuge Jehovas, uneingeladen und unermüdlich.
Sie stieg nackt aus dem Bett und machte sich eine Tasse Tee, das Gesicht eine Grimasse des schlechten Gewissens. »Es tut mir leid«, sagte sie mit bebender Stimme. »Ich glaube, du solltest beim Sex nicht mehr die Augen zumachen.« »Hmmm.«
»Ich will, dass du mich die ganze Zeit ansiehst. Okay?« »Du hast keine Milch mehr«, stellte sie fest und hockte sich vor den Barkühlschrank. »Doch, habe ich.« »Sie hat einen Stich.«
»Aber es ist immer noch Milch.«
Sie seufzte noch, als ich schon die Hütte verlassen hatte und durch die Dunkelheit zu Dads Haus ging. Wir brachen immer in das Haus des anderen ein, um Milch zu stehlen. Das muss hier mal gesagt werden: Ich war der bessere Dieb. Er kam immer, wenn ich schlief, aber weil er geradezu paranoid auf das Verfallsdatum achtete, wachte ich vom Geräusch seines orkanartigen Schnupperns jedes Mal auf.
Die Nacht war ein so tiefes, allumfassendes Schwarz, dass Vorstellungen wie Nord, Süd, Ost und West nichts mehr bedeuteten. Nachdem ich über Baumstümpfe gestolpert war und mir dornige Zweige ins Gesicht gepeitscht waren, hießen mich die Lichter in Dads Haus willkommen und deprimierten mich zugleich; sie bedeuteten, dass er wach war und ich mit ihm würde reden, genauer gesagt, ihm würde zuhören müssen. Ich stöhnte. Ich war mir dessen bewusst, dass wir uns immer fremder wurden. Es hatte sich abzuzeichnen begonnen, als ich die Schule verlassen hatte, und sich dann allmählich verschlimmert. Ich weiß nicht genau, warum, aber er verlegte sich unerwarteter Weise auf konventionelle Erziehungsmethoden wie den Einsatz moralischer Erpressung. Einmal brachte er sogar den Satz hervor: »Nach allem, was ich für dich getan habe.« Dann zählte er alles auf, was er für mich getan hatte. Es klang nach viel, aber das meiste davon waren kleinere Opfer gewesen wie »Butter gekauft, obwohl ich Margarine lieber mag«.
Die Wahrheit
Weitere Kostenlose Bücher