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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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angeknacksten Bein, ein wackeliger Tisch und eine briefmarkendünne Matratze. Ein Fenster ging zum undurchdringlichen Dickicht des Dschungels hinaus. Ich hatte darauf bestanden, das Schlafzimmer zu bekommen, das von den anderen am weitesten entfernt war. Es gab eine Hintertür - was gut war, wenn man niemandem begegnen wollte.
    Ich spürte den Stich eines Moskitos auf meinem Arm. Sie bahnten sich einen Weg durchs Netz. Angewidert riss ich mir das Moskitonetz vom Leib und dachte: Was soll ich hier bloß tun? In Bangkok mit all den Sexshows und buddhistischen Tempeln gab es vieles, womit ich mich beschäftigen konnte. Hier würde Dads bevorstehender Tod höchstwahrscheinlich sämtliche Gedanken, die nicht seinem Sterben galten, verhindern. Was blieb mir schon übrig, als zuzusehen, wie der Mann verfiel?
     
    Nach einem Essen in großer Stille, bei dem wir uns alle misstrauisch beäugten, die Luft schwanger war mit geheimen Sehnsüchten und niemand das Unsagbare sagte, zeigte mir Eddie das Haus.
    Viel zu sehen gab es nicht. Eddies Vater war nicht nur Arzt, sondern auch Hobbymaler gewesen und hatte unglückseligerweise einen Weg gefunden, beide Interessen miteinander zu verbinden. An den Wänden hingen quälend realistische Darstellungen der Eingeweide, des Herzens, der Lungen und Nieren, dazu das Bild einer Fehlgeburt, die ungeachtet ihres Pechs boshaft zu grinsen schien. Ich machte mir nicht die Mühe, so zu tun, als gefielen mir die Bilder, und Eddie erwartete das auch gar nicht. Ich folgte ihm in sein Sprechzimmer, einen großen, makellos aufgeräumten Raum mit hölzernen Fensterläden. Es war diese Sauberkeit und Ordentlichkeit, wie man sie bei extrem pedantischen Menschen findet und bei Menschen, die wirklich gar nichts anderes zu tun haben. Da ich wusste, dass Eddie hier wochenlang vergebens auf einen Patienten gewartet hatte, war offensichtlich, zu welcher Gruppe er zählte.
    »Dies war das Sprechzimmer meines Vaters. Hier empfing er die Patienten, stellte seine medizinischen Untersuchungen an und versteckte sich vor meiner Mutter. Alles ist genau so, wie er es zurückgelassen hat. Aber was rede ich da? Das stimmt ja gar nicht. Nach seinem Tod hat meine Mutter alles in Kartons gepackt, und nun habe ich alles wieder genau so arrangiert, wie ich es in Erinnerung hatte.«
    Es war ein typisches Arztzimmer: ein überdimensionaler Schreibtisch, ein bequemer Stuhl für den Arzt, ein unbequemer für den Patienten, ein erhöhter Behandlungstisch, ein Regal mit dicken medizinischen Handbüchern, und auf einem Beistelltischchen akkurat zurechtgelegte chirurgische Instrumente, nicht nur aus diesem Jahrhundert, sondern auch aus den beiden vorangegangenen. Leider hingen auch hier vulgäre Gemälde von Körperteilen an den Wänden, Bilder, die die Seriosität des menschlichen Organismus zu diskreditieren schienen. Die Atmosphäre im Raum war erdrückend, was entweder an der Allgegenwart des toten Vaters oder an der aktuellen Frustration des Sohnes lag.
    »Als ich das Angebot deines Onkels annahm, haben meine Eltern jeden Kontakt zu mir abgebrochen. Nun, hier sind sie.«
    »Wer?«
    »Meine Eltern.« Eddie wies auf zwei Steinguttöpfe, die ich für Buchstützen gehalten hatte. »Ihre Asche?« »Nein, ihre Seelen.« »Macht weniger Dreck.«
    Die Seelen von Eddies verstorbenen Eltern waren also auf einem der oberen Regalbretter verstaut worden. Außerhalb der Reichweite von Kindern.
    »Ich warte hier Tag für Tag. Nicht ein einziger Patient ist bislang gekommen. Ich habe mich überall vorgestellt, doch die Leute haben nicht das geringste Interesse daran, mal etwas Neues auszuprobieren. Ich weiß nicht mal, ob mit ihnen überhaupt ein Geschäft zu machen ist. Bei kleineren Gebrechen gehen die Leute hier erst gar nicht zum Arzt und selbst bei größeren nur selten. Aber ich bin fest entschlossen durchzuhalten. Schließlich hab ich ja Medizin studiert. Warum sollte ich also nicht als Arzt arbeiten? Ich meine, was sollte ich denn sonst tun? Soll ich die fünf Jahre Studium als Lebenserfahrung verbuchen?«
    Anscheinend war Eddie völlig blind für das eklatante Ungleichgewicht zwischen gut genutzter und vergeudeter Zeit. Er war auf die fünf Jahre Medizinstudium fixiert statt auf die zwanzig Jahre, die er auf Dad und mich aufgepasst hatte.
    Er setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches, pulte sich etwas mit den Fingern aus den Zähnen. Dabei starrte er mich feierlich an, als wäre Essensreste aus den Zähnen zu pulen etwas, das er

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