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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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schmatzte.
    »Du stellst darin die Hypothese auf, ich könnte eine verfrühte Wiedergeburt von dir sein.«
    Dad neigte den Kopf zur Seite, schloss einen Moment lang die Augen und öffnete sie dann wieder. Er sah mich an, als habe er gerade einen Zaubertrick vollführt, bei dem ich mich in Luft auflösen solle, und sei nun enttäuscht, dass es nicht funktioniert hat.
    »Worauf willst du hinaus?«
    »Glaubst du das immer noch?«
    »Ich halte es für denkbar, und das, obwohl ich gar nicht an Wiedergeburt glaube.« »Das klingt hirnrissig.« »Genau.«
    Ich spürte, wie die alte Wut in mir hochkochte. Wer war dieser lästige Typ? Ich ging raus und knallte die Tür hinter mir zu. Dann machte ich sie wieder auf.
    »Das ist kein Insektenmittel«, sagte ich.
    »Ich weiß. Ich erkenne doch wohl noch ausgekochtes Leichenfett, wenn ich welches sehe!«
    Ich stand da und war völlig konsterniert.
    »Ich hab gelauscht, du kleiner Spinner«, gab er zu.
    »Was ist los mit dir? Wieso reibst du dich dann mit dem Scheiß ein?«
    »Ich sterbe, Jasper! Hast du das noch nicht mitgekriegt? Was juckt es mich, womit ich mich einreibe? Fett vom Kinn, vom Bauch oder Ziegenkot. Was soll's? Wenn man stirbt, verliert sogar Ekel jegliche Bedeutung.«
    Dad rannte seinem Untergang entgegen, das war nicht zu leugnen. Er sah von Tag zu Tag mitgenommener aus. Schwer gezeichnet auch in seelischer Hinsicht - die Angst, dass Caroline zu Onkel Terry zurückwolle oder wir anderen diese Möglichkeit hinter seinem Rücken diskutierten, beherrschte ihn. In seiner Paranoia glaubte er, wir würden ständig über ihn reden, und diese Furcht wurde bei uns tatsächlich bald zu einem viel diskutierten Thema. So hauchte er seinen Einbildungen Leben ein und entließ sie in die Welt.
    Unsere allabendlichen Mahlzeiten verliefen so schweigend wie die erste; das einzige Geräusch: Dads lautes Seufzen nach jedem Löffel scharf gewürzter Suppe. An den Seufzern erkannte ich, dass er von Tag zu Tag wütender wurde, weil wir ihm nicht genug Mitgefühl entgegenbrachten. Er wollte ja nicht viel. Ein klitzekleines bisschen wäre schon genug. Terry war da keine Hilfe - er versuchte weiterhin, Dad mit Sport, Spiel und Abenteuer abzulenken; und Caroline war eine noch geringere Hilfe -, sie tat so, als habe sie aufgehört, überhaupt an seinen Tod zu glauben. Sie verschrieb sich der undankbaren Aufgabe, den Verlauf seiner Krebserkrankung umzukehren, und schleppte dabei alle möglichen Formen von Hexerei an - psychospirituelle Heilung, Visualisierung, Karma-Reparatur. Dad war umgeben von positivem Denken in abscheulichen Erscheinungsformen, reines Gift für einen Sterbenden. Und weil Caroline unbedingt sein Leben und Terry unbedingt seine Seele retten wollte, wurde für Dad der Gedanke an Selbstmord zur Obsession. Eines natürlichen Todes zu sterben, das sei schlichte Faulheit, erklärte er. Je verzweifelter sie versuchten, ihn mit ausgefallenen Methoden zu retten, desto mehr versteifte er sich darauf, das Geschäft des Sterbens selbst in die Hand nehmen zu wollen.
    Eines Nachts hörte ich, dass Dad schrie. Als ich aus meinem Schlafzimmer lief, sah ich, dass Terry ihn, ein Kissen in der Hand, durchs Wohnzimmer jagte.
    »Was ist denn hier los?«
    »Er will mich umbringen!«
    »Ich will nicht, dass du stirbst. Du willst sterben. Ich will dir nur dabei helfen.«
    »Bleib mir vom Leib, du Scheißkerl! Ich habe gesagt, ich möchte Selbstmord begehen. Ich habe nicht gesagt, dass ich ermordet werden möchte.«
    Armer Dad. Nicht, dass er keine klaren Vorstellungen hatte, er hatte zu viele davon; dann widersprachen sie einander und hoben sich gegenseitig auf. Dad wollte nicht von seinem Bruder erstickt werden, aber er konnte sich auch nicht dazu überwinden, das Ersticken selbst zu übernehmen.
    »Lass mich das machen«, sagte Terry. »Ich bin immer für dich da gewesen und werde es auch immer sein.«
    »Du warst nicht für mich da, als unsere Mutter versucht hat, mich umzubringen.«
    »Wovon redest du da?«
    Dad starrte Terry lange an. »Nichts«, sagte er schließlich. »Weißt du, was? Du weißt nicht, wie du sterben sollst, weil du nicht weißt, wer du bist.« »Und, wer bin ich denn?« »Sag du's mir.«
    Dad zögerte ein wenig und beschrieb sich dann als »Visionär mit begrenzter Zahl an Epiphanien«. Ich fand das ziemlich treffend, aber Terry war der Ansicht, er sei etwas ganz anderes: eine Jesusgestalt, die nicht den Mut aufbrachte, sich zu opfern, ein Napoleon, dem der Mut zur

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