Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
Vom Netzwerk:
warum. Sie sagte: >Das ist unhöflich.< Ich fragte: >Unhöflich, wem gegenüber? Dir? In welcher Hinsicht?< Wieder war sie ratlos, und als ich ins Bett ging, >Weil 7 Uhr abends die Schlafenszeit für Kinder unter sieben ist<, begriff ich, dass ich blindlings die Anweisungen einer Frau befolgte, die ihrerseits blindlings irgendwelchen vagen Allgemeinplätzen folgte. Ich dachte: Vielleicht müssen die Dinge nicht so sein, wie sie sind. Man könnte sie auch anders machen. Auf jede beliebige Weise.«
    »Du meinst also, die Menschen haben sich mit Dingen abgefunden, die vielleicht gar nicht stimmen?«
    »Sie müssen sich mit Dingen abfinden, sonst könnten sie ihren Alltag nicht bewältigen. Sie müssen ihre Familien ernähren, und sie brauchen ein Dach überm Kopf. Herumzusitzen und sich zu fragen, warum und wieso, ist ein Luxus, den sie sich nicht leisten können.«
    Harry klatschte erfreut in die Hände. »Und jetzt nimmst du die Gegenposition ein, um das Gegenargument zu vertreten! Du disputierst mit dir selbst! Auch das ist wieder ein Merkmal des Philosophen!«
    »Ich bin kein Scheißphilosoph!«
    Harry kam um den Tisch und setzte sich neben mich, wobei er sein grün und blau geschlagenes Gesicht dicht an meines heranschob.
    »Pass auf, Martin, lass dir von mir etwas sagen. Dein Leben wird nicht besser werden. Im Grunde... Denk an deinen schlimmsten Augenblick. Hast du ihn? Gut. Also, ich kann dir sagen: Von da an geht's nur noch abwärts.«
    »Kann sein.«
    »Du weißt, dass du nicht den Hauch einer Chance hast, glücklich zu werden.«
    Dies waren beunruhigende Neuigkeiten, und ich nahm sie schlecht auf, vielleicht weil ich das ungute Gefühl hatte, dass Harry mich verstand. Tränen wollten mir in die Augen treten, aber ich drängte sie zurück. Dann begann ich, über Tränen nachzudenken. Was hatte sich die Evolution dabei gedacht, als sie es dem menschlichen Körper unmöglich machte, Traurigkeit zu verbergen? Ist es irgendwie unabdingbar für das Überleben unserer Spezies, dass wir unsere Melancholie nicht für uns behalten können? Warum? Worin liegt der evolutionäre Vorteil des Weinens? Mitgefühl zu wecken? Hat die Evolution eine machiavellistische Ader? Nach einem richtigen Weinkrampf fühlt man sich ausgepumpt und erschöpft und manchmal auch peinlich berührt, besonders wenn ein Fernsehwerbespot für Teebeutel die Tränenflut ausgelöst hat. Legt es die Evolution darauf an, uns zu demütigen? Zu erniedrigen?
    Scheiße.
    »Weißt du, was du meiner Meinung nach tun solltest?«, fragte Harry. »Was?«
    »Bring dich um.«
    »Schluss für heute!«, rief die Wache.
    »Nur zwei Minuten noch!«, rief Harry zurück.
    Wir saßen da und funkelten uns an.
    »Jawohl, ich rate dir, bring dich um. Das wäre das Beste für dich. Es gibt hier bestimmt irgendeine Klippe, von der du runterspringen kannst.«
    Mein Kopf bewegte sich leicht, aber es war weder ein Nicken noch ein Kopfschütteln. Es war eine leichte Drehung.
    »Tu's allein. Wenn keiner dabei ist. Hinterlass keinen Abschiedsbrief. Viele Selbstmordkandidaten grübeln so lange über ihre letzten Worte nach, dass sie schließlich an Altersschwäche sterben! Mach du nicht denselben Fehler. Wenn es um Selbstmord geht, ist jede Vorbereitung nur Verschleppung. Verabschiede dich nicht. Pack keine Tasche. Geh einfach an einem Spätnachmittag allein zu der besagten Klippe - der Nachmittag ist am besten, weil er so unumstößlich am Ende eines jeden Tages wartet, an dem sich wieder einmal nichts in deinem Leben zum Besseren verändert hat, da gibt man sich nicht so leicht der sanften Illusion von Aussichten und Möglichkeiten hin, wie sie der Morgen gern mit sich bringt. Wenn du dann am Abgrund stehst, allein, zählst du nicht von hundert an rückwärts, machst keine große Sache daraus, sondern gehst einfach weiter. Nicht springen, es sind schließlich nicht die Olympischen Spiele, es ist Selbstmord, mach einfach einen Schritt über den Rand der Klippe, als würdest du in einen Bus steigen. Bist du schon mal Bus gefahren? Prima. Dann weißt du ja, was ich meine.«
    »Schluss für heute, hab ich gesagt!«, rief der Schließer.
    Harry bedachte mich mit einem Blick, der in meinen Eingeweiden eine Kettenreaktion auslöste.
    »Tja«, sagte er, »jetzt heißt es wohl Abschied nehmen.«
    Potenzielle Absprungplätze für Selbstmörder gibt es reichlich, wenn man in einem Tal lebt. Unser Städtchen war von steilen Felsen umgeben. Ich erklomm den steilsten, den ich finden konnte,

Weitere Kostenlose Bücher