Vatermord und andere Familienvergnuegen
erste Mal, dass ich etwas so Gestörtes schon im Anfangsstadium erlebe. Ziemlich frühreif bist du, was?«
»Was wollen Sie?«, fragte ich. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich an Verbrechen nicht interessiert bin.«
»Aber ich bin an dir interessiert. Ich möchte wissen, wie du dich da draußen in der großen feindlichen Welt behauptest. Sicher anders als dein Bruder. Der ist ein Chamäleon, bemerkenswert anpassungsfähig, und ein Hund, sehr treu und quietschfidel. Wundervolle Veranlagung, die dein Bruder da hat, wenn auch...« Harry beugte sich vor und sagte: »Er hat was Labiles an sich. Du hast das natürlich schon bemerkt.«
Hatte ich.
»Ich wette, dir entgeht so schnell nichts. Nein, ich will nicht mit der abgedroschenen Phrase kommen, du würdest mich an mich selbst als Junge erinnern, denn das tust du, ehrlich gesagt, nicht. Du erinnerst mich an den, der ich heute bin, ein Mann im Gefängnis, und dass sich mir dieser Vergleich aufdrängt, Martin, finde ich ziemlich beängstigend, findest du nicht auch? Wenn man bedenkt, dass du, na ja, eben noch ein Kind bist.«
Ich verstand, was er meinte, stellte mich aber dumm.
»Du und dein Bruder, ihr seid einzigartig. Ihr lasst euch in keiner Weise beeinflussen durch die Menschen um euch herum. Ihr versucht nicht, sie zu imitieren. Ihr haltet Abstand, sogar voneinander. Eine derart ausgeprägte individualistische Veranlagung ist selten. Weißt du, ihr seid beide die geborenen Führer.«
»Terry vielleicht.«
»Du auch, Marty! Das Problem ist nur, dass du am Arsch der Welt feststeckst, mein Junge! Anhänger von der Sorte, die für dich infrage kämen, gedeihen hier nicht. Sag doch mal ehrlich - du magst Menschen nicht besonders, oder?«
»Sie sind okay.«
»Hältst du dich für was Besseres?« »Nein.«
»Warum magst du sie dann nicht?«
Ich fragte mich, ob ich diesem Irren gegenüber offen sein sollte. Noch nie hatte jemand Interesse an dem gehabt, was ich dachte oder fühlte. Noch nie hatte sich jemand für mich interessiert.
»Tja, zum einen«, begann ich, »beneide ich sie um ihre Zufriedenheit. Und zweitens treibt es mich zur Weißglut, dass sie Überzeugungen haben, zu denen sie offenbar nicht durch Nachdenken gekommen sind.«
»Red weiter.«
»Es sieht so aus, als ob sie sich mit dem letzten Mist beschäftigen, nur um den Impuls zu unterdrücken, über ihre eigene Existenz nachzudenken. Warum sollten sich Nachbarn gegenseitig wegen rivalisierender Fußballvereine die Köpfe einschlagen, wenn nicht, um den Gedanken an den eigenen Tod zu verdrängen?«
»Weißt du, was du da machst?«
»Nein.«
»Du philosophierst.«
»Nein, tu ich nicht.«
»Tust du wohl. Du bist ein Philosoph.«
»Nein, bin ich nicht!«, brüllte ich. Ich wollte kein Philosoph sein. Philosophen sitzen nur herum und denken. Sie werden fett. Sie haben zwei linke Hände bei allem Praktischen, zum Beispiel zeigt sich das beim Unkrautjäten im eigenen Garten.
»Doch, Martin, du bist einer. Ich sag ja nicht, dass du ein guter Philosoph bist, nur dass es dir im Blut liegt. Das ist keine Beleidigung, Marty. Hör zu. Mich hat man so oft als Kriminellen bezeichnet, als Anarchisten, als Rebellen und manchmal als menschlichen Abschaum, aber nie hat man zu mir Philosoph gesagt, was eine Schande ist, denn genau das bin ich. Ich habe mich entschieden, nicht im Mainstream mitzuschwimmen, und zwar nicht nur, weil mich der Mainstream ankotzt, sondern auch, weil ich die Logik des Mainstreams hinterfrage, mehr noch - ich weiß nicht mal, ob dieser Mainstream überhaupt existiert! Warum sollte ich mich an ein Leben unterm Joch ketten, wenn dieses Joch womöglich ein Konstrukt ist, eine Erfindung, ein gemeinsamer Traum, um uns alle zu knechten?« Harry beugte sich vor, und ich konnte seinen schalen Zigarettenatem riechen. »Du hast dasselbe empfunden, Marty. Du sagst, du verstehst nicht, warum Menschen handeln, ohne nachzudenken. Du fragst, warum. Das ist für dich eine wichtige Frage. Nun frage ich dich: Warum das Warum?« »Weiß ich nicht.«
»Doch, du weißt es. Ist schon gut, Martin. Sag es mir: Warum das Warum?«
»Tja, solange ich denken kann, gibt mir meine Mutter nachmittags ein Glas kalte Milch. Warum nicht warme? Warum Milch? Warum nicht Kokosmilch oder Mangolassi? Einmal habe ich sie gefragt. Sie hat gesagt, das würden Kinder in meinem Alter eben trinken. Ein anderes Mal hat sie mich zurechtgewiesen, weil ich beim Abendessen die Ellbogen auf dem Tisch hatte. Ich fragte,
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