Vatermord und andere Familienvergnuegen
das nur eineinhalb Meilen von unserer Haustür entfernt lag.
Nun, da ihr verlorener Sohn zu Hause und doch nicht zu Hause war, sondern inhaftiert in einem Gebäude, das wir sowohl von der vorderen Veranda wie vom Küchenfenster aus sehen konnten, glitt meinen Eltern auch noch der letzte Rest ihrer ohnehin angegriffenen geistigen Gesundheit durch die verschwitzten Finger. Zwar lag ein gewisser Trost darin, dass Terry nun vor schießwütigen Polizisten sicher war, doch ihn so verlockend nah und dennoch unerreichbar zu wissen, war eine solche Qual, dass man nicht mehr hätte sagen können, wer von beiden schon weiter abgedriftet war vom Licht und vom Leben; sie verfielen beide, jeder auf seine eigene traurige Weise, derart rasch, als wollten sie einander darin überbieten. Es war, als wohnte man mit zwei Gespenstern zusammen, die sich mit ihrem Hinscheiden abgefunden hatten und nicht länger versuchten, sich unter die Lebenden zu mischen. Sie hatten aus der Tatsache, dass sie durchsichtig waren, endlich den richtigen Schluss gezogen.
Mit einem seltsamen, verrückten Ausdruck von Beglückung im Gesicht verschrieb sich meine Mutter einem neuen Projekt: Sie rahmte jedes verfügbare Kinderfoto von Terry und mir und hängte damit sämtliche Wände voll. Im ganzen Haus gab es kein Foto von uns, auf dem wir älter als dreizehn waren, so als hätten wir unsere Mutter verraten, indem wir erwachsen geworden waren. Und jetzt sehe ich auch wieder meinen Vater vor mir, wie er am äußersten rechten Ende der Veranda sitzt, von wo aus die Sicht auf das Gefängnis nicht durch Bäume verdeckt war, den Feldstecher an die Augen gepresst, um einen Blick auf seinen Sohn werfen zu können. Er verbrachte so viele Stunden am Tag damit, durch diesen Feldstecher zu starren, dass er, wenn er ihn schließlich absetzte, Mühe hatte, uns mit seinen überanstrengten Augen zu erkennen. Manchmal rief er: »Da ist er!« Ich kam dann nach draußen gerannt, doch er verweigerte mir seinen kostbaren Feldstecher. »Du hast genug Schaden angerichtet«, meinte er dann ominös, als wäre mein Blick der einer hässlichen griechischen Hexe. Nach einer Weile bat ich ihn gar nicht mehr darum; und wenn ich hörte, wie mein Vater rief: »Da ist er wieder! Er steht im Hof! Er erzählt den Häftlingen einen Witz! Sie lachen! Es sieht aus, als hätte er einen Heidenspaß!«, dann rührte ich keinen Muskel.
Natürlich hätte ich mir selber einen Feldstecher zulegen können, aber ich wagte es nicht. Ich glaubte nämlich gar nicht, dass mein Vater tatsächlich etwas sah.
Unser Ort wurde zu einem Mekka für Journalisten, Historiker, Studenten und ganze Heerscharen kurvenreicher Frauen mit hochtoupiertem Haar und dick aufgetragenem Make-up, die vor dem Gefängnistor auftauchten und Terry besuchen wollten. Die meisten wurden abgewiesen und stromerten dann durch unseren Ort; viele hielten die erste und einzige Auflage des Handbuchs des Verbrechens umklammert. Das Buch war am Tag seines Erscheinens aus den Regalen gerissen und dann rasch für alle Zeiten verboten worden. Es war bereits eine Rarität. Und nach wem durchkämmten die obsessiven Fans wohl den Ort? Nach mir! Sie wollten das Buch von mir, dem Herausgeber, signieren lassen! Zuerst war es ein prickelndes Gefühl, endlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, aber schon bald hatte ich die Nase voll. Jeder Autogrammsammler nervte mich mit endlosen Fragen nach Terry.
Wieder mal Terry.
Und in dieser Menge promigeiler Trottel sah ich Dave wieder! Er trug einen Anzug, doch ohne Krawatte, und hatte das Haar adrett zurückgekämmt. Er hatte sich wirklich schick gemacht. Er war im Begriff, ein neues Leben zu beginnen. Augenscheinlich hatte er zu Gott gefunden, was ihn weniger gewalttätig, aber nicht weniger unerträglich gemacht hatte. Ich wurde ihn einfach nicht los; er war auf Teufel komm raus darauf versessen, meine Seele zu retten. »Du magst doch Bücher, Martin. Hast du schon immer getan. Aber hast du auch dieses gelesen? Es ist sehr gut, es heißt Die Heilige Schrifl.« Er hielt mir eine Bibel so dicht vors Gesicht, dass ich nicht wusste, ob ich sie lesen oder aufessen sollte.
»Ich habe heute Morgen deinen Bruder besucht«, sagte er. »Deswegen bin ich zurückgekehrt. Ich habe ihn auf den falschen Weg gelockt, und nun muss ich ihn auf den Pfad der Erlösung führen.« Sein biblisches Gerede ging mir auf die Nerven, daher wechselte ich das Thema und erkundigte mich nach Bruno. »Leider schlechte
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