Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
und geht. Ich warte noch eine Weile, bevor ich zu Mathilda zurückkehre.
Mathilda ist bereits aufgesprungen. »Ich muss jetzt gehen«, sagt sie, »ich will nicht, dass Papa sich auch noch um mich Sorgen macht.«
Sie nimmt meine Hände in ihre. Sie sind ganz warm und ihr Griff ist fest.
»Paula, ich muss noch etwas wissen, bevor ich gehe.« Sie holt tief Luft. »Glaubst du, wir können Freundinnen bleiben? Ich möchte es so gern. Ich möchte wissen, wie es dir geht, was du erlebst, ob du Werner heiraten wirst …« Sie lacht leise. Es ist mittlerweile so dunkel, dass ich ihr Gesicht kaum noch erkennen kann.
»Ich und Werner heiraten? Natürlich werden wir Freundinnen bleiben! Verlässt du mich nicht, verlass ich dich auch nicht. Für mich gilt das jetzt mehr denn je«, sage ich ernst. »Aber wenn du Münster verlässt und nicht mehr zum Briefkasten kommst …«
»Da ist jemand, der uns hilft. Ich kann dir nicht sagen, wer es ist. Ich werde dir auch nicht schreiben, wo wir wohnen. Je weniger du weißt, umso besser für alle. Dieser Jemand würde für mich zum Briefkasten kommen, deine Briefe holen und meine bringen. Bitte, sag ja! Und bitte, schreib mir weiter!« Ihre Stimme klingt flehentlich.
»Du kannst dich auf mich verlassen«, sage ich.
Wir nehmen uns in den Arm, ganz fest. Dann dreht Mathilda sich um und geht. Ich schaue ihr nach, bis die Dunkelheit sie verschluckt.
Langsam mache ich mich auf den Heimweg. Vorsichtig bewege ich mich auf der dunklen Promenade, um nicht in einen der Bombentrichter oder über einen umgestürzten Baum zu fallen. Immer wieder geht mir Mathildas Geschichte durch den Kopf. Aus Mathildas Sicht ist ihrer Mutter furchtbares Unrecht geschehen. Aber weiß Mathilda über alles Bescheid, was ihre Eltern tun? Mein Vater sagt, wer nichts Unrechts tut, muss auch keine Angst haben. Was also ist richtig? Und gleichzeitig bin ich furchtbar traurig. Werde ich Mathilda und ihre Eltern jemals wiedersehen?
Ich beginne ein magisches Spiel: Wenn ich es schaffe, mit geschlossenen Augen zehn Schritte zu machen, ohne zu stürzen, dann wird alles gutgehen. Ich schließe die Augen, setze vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Eins, zwei, drei, ich zähle stumm … acht, neun, zehn. Mir ist nichts passiert, dann wird Mathilda auch nichts geschehen.
Aber das ist doch Quatsch, was ich hier mache. Ich versuche es trotzdem ein zweites Mal. Alles wird gut. Das sind doch nur Kinderspiele, sage ich mir. Nur noch ein drittes Mal, dann sehe ich zu, dass ich nach Hause komme. Meine Eltern warten sicher schon ungeduldig, denn eigentlich wollten wir heute Abend gemeinsam die letzten Umzugskisten packen und mit einem Glas Sekt von der Sonnenstraße Abschied nehmen. Papa hat zwei Flaschen Sekt organisieren können.
»Eine beim Auszug und eine für den Einzug«, hat er lächelnd gesagt. »Und du darfst ein kleines Schlückchen mittrinken, meine Prinzessin.«
Morgen ziehen wir in unsere Villa!
Aber ich wälze mich im Bett und starre an die Wand. Irgendwo da draußen in der dunklen Nacht ist Mathilda. Und das Dunkel ist plötzlich viel schwärzer geworden. Ich mag auch die Augen nicht schließen. Ich fürchte mich vor den Bildern.
Als wir am nächsten Tag aus der Schule kommen, steht das blau lackierte Pferdefuhrwerk der
Spedition Peters
vor der Haustür. Zwei zottelige Kaltblüter warten geduldig, dass der Wagen beladen wird. Ich streichle ihre verfransten Mähnen. Der warme Atem, der aus ihren Nüstern strömt, streift meine Arme. Ein vertrauter Geruch schlägt mir entgegen. Sofort muss ich an Astra und Mozart denken, an die Ausritte und Reitstunden und daran, dass ich schon lange nicht mehr auf Bernings Hof war. Herr Berning hat mich eingeladen zu kommen, wann immer ich will. Aber will ich ohne Mathilda überhaupt noch reiten? Trotzdem könnte ich Herrn Berning mal wieder besuchen.
»Ihr zwei habt Glück, dass wir nicht viel mitnehmen«, flüstere ich einem der beiden Pferde ins Ohr, »dann müsst ihr auch nicht so stark ziehen.«
Mein Vater kommt gerade aus dem Haus und trägt ein merkwürdig flaches Paket in den Armen.
»Was ist das denn?«, frage ich neugierig.
»Das ist eine Überraschung und wird erst im neuen Haus verraten. Ihr werdet staunen«, antwortet er geheimnisvoll und stellt das behutsam in Decken eingehüllte Paket auf den Wagen. »So, jetzt ab ins Haus und helfen.«
Er hakt mich unter wie eine junge Dame und begleitet mich in die Küche. Dort haben wir gestern alles, was wir
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