Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
jetzt, wo doch eine neue Zeit beginnt, Deutschland verlassen kann.
»Paula! Wann begreifst du es endlich? Meine Mutter ist Jüdin. Papa sagt, wir haben schon viel zu lange gewartet. Aber da waren Haus und Klinik, und Mama wollte zunächst nicht weg. Hier sei ihr Zuhause, sagte sie. Papas Arbeit, meine Ausbildung, unsere Verwandten, die Freunde, unsere Pferde … Zum Schluss hatte sie nur noch Angst.«
Und dann vertraut Mathilda mir die Odyssee ihrer Mutter an. Und mit einem Mal bin ich mir nicht sicher, ob ich das alles wissen will …
Mathildas Vater hatte falsche Papiere besorgt. Legal kamen sie nicht mehr aus Deutschland heraus. Seine Frau reiste jetzt als Arierin. In einer kleinen Stadt an der holländischen Küste warteten Helfer, die sie nach England bringen sollten. Das zu organisieren hatte viel Zeit und Geld gekostet. Eigentlich hatten die Schuberts gemeinsam reisen wollen. Dr. Schubert wollte seine Frau nicht aus den Augen lassen.
Aus der gemeinsamen Abreise wurde nichts. Dr. Schuberts Schwester aus Köln erkrankte schwer und ließ nach ihm schicken. Mathildas Mutter wollte und konnte nicht länger warten, also sollte sie vorausfahren und in Holland im Versteck warten. Doch bereits auf dem Bahnhof von Breda wurde ihr beim Umsteigen die Handtasche mit allen Papieren aus der Hand gerissen. Völlig in Panik rief sie laut um Hilfe. Doch da war nur ein deutscher Offizier auf dem gleichen Bahnsteig. Die Tasche konnte er ihr nicht wiederbeschaffen. Der Dieb war zu schnell.
Er nahm sie mit, um ihr zu helfen, und fragte nach ihrem Namen. Doch als Frau Schubert stotterte, sich verhaspelte, sich in Widersprüche verstrickte und zum Schluss nur noch schwieg, wurde er misstrauisch. Ihr Koffer wurde durchsucht, und als man ihren Schmuck fand, und in ihrer Unterwäsche auch noch 2000 Reichsmark da wurde sie inhaftiert.
Man steckte sie in eine kleine, schmutzige Zelle in Einzelhaft, mit einem Eimer statt Toilette, und sie bekam kaum etwas zu essen. Sie schwieg weiter, deshalb wurde sie geschlagen. Als sie die Schläge nicht mehr ertrug, nannte sie schließlich ihren Namen und Wohnort, und einer ihrer Peiniger horchte auf. Er fragte nach, ob sie die Frau jenes berühmten Arztes Dr. Schubert sei. Und weil dieser Offizier Dr. Schubert kannte, ja seine Frau ihm sogar das Leben verdankte, benachrichtigte er ihn und wies ihn an, Mathildas Mutter abzuholen.
Ihr Zustand war furchtbar: Sie war verletzt, verstört und voller Angst. Sie musste sich in Münster melden und darf nun den Wohnort nicht mehr verlassen.
»Und jetzt versteckt Mama sich auf dem Land. Wir werden ihr bald folgen, um immer in ihrer Nähe sein, bis wir alle fliehen können.«
Mathilda sieht mich an, wartet darauf, dass ich etwas sage. Aber ich weiß nicht was, denn alle Worte sind falsch. Ich weiß nur, dass wir uns vielleicht nicht mehr wiedersehen. Tränen rollen mir über die Wangen.
In diesem Moment höre ich ein Rascheln von Blättern dicht neben uns und das hektische Hecheln eines Hundes. Ein braun-weißer Münsterländer schnüffelt herum, bellt und knurrt. Ich zucke zusammen, denn ich habe Angst vor Hunden. Ich erkenne das Tier und erstarre – es ist Arno, der Hund von Franziska. Nein, die darf uns hier nicht sehen! Niemand darf mich hier mit Mathilda sehen, aber vor allem nicht Franziska. Schließlich habe ich ihr vor ein paar Tagen erzählt, dass ich Mathilda nicht mehr treffe.
»Ruhig«, flüstere ich. Ich überwinde meine Angst, greife Arno mit der einen Hand am Halsband und streichele ihn. Dann ziehe ich den Hund schnell aus dem Gebüsch. Oben am Weg steht nicht Franziska, sondern ihre jüngere Schwester Sophia. Gott sei Dank!
»Ach, du bist es, Paula. Danke. Der wilde Kerl ist mir einfach weggelaufen«, ruft Sophia lachend.
»Das hab ich mir schon gedacht. Musst du ihn heute spazieren führen?« Ich übergebe ihr den Hund. Ich hoffe nur, dass sie Mathilda nicht gesehen hat und keine Fragen stellt.
»Was machst du denn bei dieser Dunkelheit da unten am Löschteich?«, fragt sie neugierig und versucht, an mir vorbei die Böschung hinunterzuschauen. Ich verstelle ihr die Sicht und lege einen Finger auf die Lippen.
»Psst«, sage ich verschwörerisch und hoffe, dass meine Stimme meine Angst nicht verrät. »Du darfst es aber nicht weitersagen …«
Sophia lacht, lässt sich auf mein Spiel ein und flüstert: »Ich weiß schon, du triffst dich mit einem Jungen. Na, dann will ich euch nicht länger stören.« Sie dreht sich um
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