Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
besteht.
»Nichts für ungut«, sagt Herr Kinnebrock grinsend und drückt sich die Schirmmütze in den Nacken. »Wir kennen unsere Pappenheimer.«
Nichts für ungut
ist Kinnebrocks Lieblingssatz. Mein Vater behandelt Kinnebrock mit großem Respekt. Er ist ein »alter Kämpfer«, der im Weltkrieg nicht nur die Schlachten auf den Feldern Frankreichs überstanden hat, sondern auch später als Freikorpskämpfer im Ruhrgebiet war.
»Treu, deutsch und zuverlässig, das ist unser Herr Kinnebrock«, sagt Papa.
»Nichts für ungut«, erwidert der und haut seine mächtige Pranke auf Hans’ Schulter. »Einen tüchtigen Jungen hast du, Erich. Dem geht die Gartenarbeit wirklich leicht von der Hand. Mal sehen, was er vom Kistenschleppen hält.« Und dann stoßen sie mit Herrn Heitkamp und dem Kriegsgefangenen auf die alten Zeiten und das neue Deutschland an, während Hans leise fluchend die Kisten vom Lastwagen lädt.
Ich wische mir die schmutzigen Hände an meiner Schürze ab und atme tief die würzige Herbstluft ein.
»Schön habt ihr es«, sagt Gertrud. Sie liegt auf meinem Bett, die Hände im Nacken, und bewundert die Rosen an meiner Zimmerdecke. Dann springt sie auf und nimmt vorsichtig das Buch mit der Signatur des Führers: »Das muss wieder einen Ehrenplatz haben.«
Ich nicke und stelle es auf ein Bücherbrett. Da springt es einem richtig ins Auge. Später, als Gertrud gegangen ist, setze ich mich an meinen neuen Schreibtisch, einen Sekretär mit vielen kleinen Fächern und Schublädchen. Herr Heitkamp hat das Kirschbaumfunier blank poliert und einige Zierleisten ausgebessert. Er hat mich auf ein Geheimfach aufmerksam gemacht, das im Aufsatz hinter einem versteckten Türchen verborgen ist.
Ein gutes Versteck für Mathildas Briefe, obwohl mir ein inneres Gefühl sagt, ich sollte sie besser verbrennen. Doch sie sind das Einzige, was ich von ihr habe. Ich muss endlich wieder an Mathilda schreiben.
Lenchen! Ich bin so glücklich. Wir sind umgezogen. Ich habe unglaublich viel Platz in meinem neuen Zimmer. Unser Haus würde Dir gefallen, aber – was machst Du? Und wo bist Du? Du fehlst mir, und ich mache mir Sorgen um Dich.
Stell dir vor, ich werde mit Werner ins Kino gehen. Ob er sich traut? Du weißt schon! Schreibe mir! Bitte bald. Dein Fundevogel
Ich bringe den Brief zum Geheimbriefkasten. Meine Hand liegt vielleicht einen Moment zu lang auf der borkigen Rinde des Baumes. Anders kann ich mir meine plötzliche Traurigkeit nicht erklären. Glücklich und zufrieden müsste ich jetzt eigentlich nach Hause gehen, mich auf mein Bett legen, träumen und mich aufs Kino freuen. Aber ich spüre, wie mich auf einmal ein Gefühl der Hilflosigkeit gefangen hält. Was ist los mit mir? Ist das wegen Mathilda? Oder wegen dieser ganzen Heimlichtuerei?
Wie von selbst beginne ich zu laufen. Ich laufe in der Dämmerung auf der Promenade, an Mathildas früherem Haus und an den zerstörten Häusern der Sonnenstraße vorbei und weiter bis zum Zwinger …
»Komm! Ein Wettrennen. Einmal um die Promenade. Nur wir beide.« Hans ist auf einmal neben mir. Wie vom Himmel gefallen steht er da. Ich bin froh, dass mein Bruder mich aus den trüben Gedanken holt. Mühelos und mit federnden Schritten läuft er neben mir her.
Auf einmal verändert er die Stimme: »Willkommen bei den Olympischen Spielen!« Er ist Reporter und Läufer zugleich. »Es geht um die Ehre. Es geht um den Sieg. Es geht um Gold für Deutschland.« Seine Stimme tönt wie aus dem Lautsprecher.
Der Coerdeplatz liegt längst hinter uns. Am Kreuztor überqueren wir die Hermann-Göring-Straße. Der Mond hängt dick und fett über den Bäumen. Eine laue Nacht senkt sich über die Dächer der Stadt herab. Ich bekomme Seitenstiche. Weiter!
»Sehen Sie den überragenden Alfred Dompert. Den großartigen deutschen Langstreckenspezialisten. Den Mann mit der Pferdelunge.«
Vor uns liegt der Hindenburgplatz. Mein Herz schlägt jetzt rasend. Mein Atem geht nur noch stoßweise. Keine Spur von Pferdelunge!
»Bist verflixt schnell, Schwesterchen«, keucht jetzt sogar mein Bruder. Entweder will er mich auf den Arm nehmen, oder ich habe ihn gleich besiegt. Am Kanonengraben begreife ich, dass Hans mit mir spielt.
»Und jetzt der unvergleichliche Endspurt des Helden der Promenade. Alfred Dompert läuft alle in Grund und Boden!«
Rechts von mir sehe ich den weißen Giebel der Schubert-Villa im Mondlicht. Eine Runde haben wir geschafft! Jeder meiner Atemzüge sticht. Ich glaube,
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