Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
oder?«
»Heißt das, die Menschen, die vorher in diesem Haus gewohnt haben, haben für all das nur ein paar Mark bekommen?« Meine Stimme klingt gepresst und ungläubig.
»Genug jetzt!« Papa wird zornig. »Ich will davon nichts mehr hören. Diese Leute haben genug bekommen. Du hast
Jud Süß
gesehen. Du weißt, was das für Ungeheuer sind. Und deine Mathilda ist schließlich Jüdin. Und jetzt Schluss mit diesem Thema.«
»Halbjüdin«, entgegne ich trotzig.
Papa schweigt einen Moment, atmet tief ein und beugt sich ganz nah zu mir herunter. Sein vor Wut gerötetes Gesicht schwebt direkt vor meinem. Ich zucke zurück und will mich abwenden.
»Hier geblieben«, sagt er. »Ich will, dass du mir glaubst. Sonst nichts. Jüdin oder Halbjüdin, gehopst wie gesprungen. Begreif es endlich!«
Das ist nicht meine Brosche!, würde ich am liebsten schreien. Ich werde sie Mathilda zurückgeben! Aber ich sollte mich verziehen, bevor er richtig wütend wird.
Ach, und ich weiß ja gar nicht, ob ich Mathilda je wiedersehe. Ich denke an die Bomben, die uns gestern Nacht verfehlten, an Schuberts verlassene Villa, an Mathildas verprügelte Mutter, an die bedrohliche Stimmung nach
Jud Süß
. Nichts scheint mehr sicher.
Ich ziehe meine Jacke an. Was kann ich tun? Eine gute Schaftführerin hat immer einen zweiten Plan, denke ich, während ich die Haustür hinter mir zuziehe. Ich hab’s: Ich werde die Brosche in unseren Geheimbriefkasten legen. Sie wird ihren Weg zu Mathilda zurückfinden. Irgendwie. Ich schaue mich um. Der Bombeneinschlag der vergangenen Nacht hat einen tiefen Krater in die Blumenrabatten des Servatiiplatzes gerissen. Bäume sind umgestürzt, die Fahrbahn ist aufgerissen, und Wasserleitungen sind geplatzt. Überall sind Arbeiter mit Reparaturen beschäftigt.
Unsere Nachbarin, Frau Schneider, kommt aus dem Haus und weiß, dass weitere Bomben in der Nähe des Zwingers und des Gefängnisses eingeschlagen sind. Auch die Promenade am Coerdeplatz sei getroffen worden. Sie hat gehört, dass die Flak ein Flugzeug abgeschossen hat und es über dem Dyckburger Wäldchen abgestürzt ist. Hans, der inzwischen neben mir steht, will sich am liebsten sofort auf den Weg machen, auch wenn Mama die Flak- und Bombensplitter, die er von seinen Ausflügen mitbringt, nicht im Haus haben will.
Ich weiß meinen Weg. Ich will zum Geheimbriefkasten. Ich gehe in die Klosterstraße. Unser Luftschutzwart wohnt dort, und von seinen Wohnungsfenstern aus kann man den Feuerlöschteich sehen, neben dem der Briefkasten ist. Er sitzt oft am Fenster, und ich habe mir angewöhnt, zu ihm hinaufzuwinken. Er glaubt bestimmt, dass ich den Weg in die Promenade abkürze, wenn ich im Gebüsch am Teich verschwinde. Ich taste mit meinen Fingern in der Baumritze und ziehe einen gefalteten Umschlag heraus. Es ist mein Brief an Mathilda vom Umzugstag. So viele Tage sind vergangen. Der Brief hat es nicht zu Mathilda geschafft. Ich hocke auf dem großen Stein und suche in meinem Tornister nach Stift und Zettel.
Stell dir vor, ich habe deinen Schmetterling mit der kleinen Spinne. Ich wollte sie hier für dich verstecken. Doch nach den Bombenangriffen der vergangenen Nacht ist mir das zu unsicher. Was soll ich tun? Ich warte auf eine Nachricht. Ich verlass dich nicht. Dein Fundevogel.
12. Die Verhaftung
Am nächsten Tag helfe ich bei der Altmetall-Sammlung. Jedes Stückchen Metall ist jetzt kostbar, es wird gesammelt und eingeschmolzen. Alles wird wiederverwertet, das meiste in der Rüstungsindustrie. Wir sammeln auch Knochen, aus denen Leim hergestellt wird. Die Ausbeute ist heute sehr gering. Gertrud hat von irgendwoher einen Radreifen von einem alten Kutschwagen ergattert. Das ist die Krönung unserer heutigen Sammlung. Alle Gegenstände von Wert sind längst abgeliefert oder beschlagnahmt. Selbst Schokolade ist nicht mehr in Stanniolpapier eingewickelt.
Auf meinem Heimweg durch die Promenade sehe ich eine Gruppe von Jungvolk-Pimpfen * , die sich unter einer großen Linde aufgeregt zusammendrängen. Hans ist dabei, und in ihrer Mitte entdecke ich Werner. Ich will gerade in die nächste Seitenstraße einbiegen, da erkenne ich, dass sie jemanden in ihrer Mitte eingekeilt haben und herumschubsen. Norbert! Das ist Norbert Steinkamp! Fast hätte ich ihn ohne seine Brille nicht wiedererkannt. Norbert blutet aus der Nase. Die Pimpfe johlen und krakeelen und verspotten Norbert. Werner schreit ihn an und stößt ihn mit Fäusten. Ich bin jetzt so nah, dass ich
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