Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
er.
»Schrecklich!«
»Ja, so sind sie, ausnahmslos alle.« Er betont das »ausnahmslos alle« und schaut mich dabei eindringlich an. Ich erwidere seinen Blick und nicke ernst.
Ich helfe meiner Mutter beim Abwasch, und Hans sitzt vor dem Volksempfänger. Mit Mama kann ich nicht über den Film reden. Sie sagt, sie will diese schrecklichen Sachen nicht hören. Sie hat
Jud Süß
vor ein paar Monaten mit Papa gesehen und ist aus dem Kino gelaufen.
»Der Jude ist immer nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Der Deutsche kann als Idealist für die Idee sterben. Beim Juden zählt nur der eigene Vorteil und das eigene Überleben. Ich weiß, es ist vielleicht ein fürchterlicher Vergleich, aber so handeln nur Tiere.« Das sagt Papa ruhig und sachlich, während er seinen Eintopf löffelt und sich mit der weißen Serviette den Mund abwischt.
Das Radio meldet Feindeinflüge, und schon bald danach ertönt der Voralarm. Es ist inzwischen zehn Uhr abends. Ich bin hundemüde, und der Film geht mir nicht aus dem Kopf. Es ist der erste Alarm in unserem neuen Haus. Ein großer Raum in unserem Keller ist als Luftschutzkeller eingerichtet. Er ist geräumiger und heller als in der Sonnenstraße, aber längst nicht so gemütlich. Es gibt keine Betten, und ich kann auch nicht mehr mit Papa an einem Tisch sitzen. Wir hocken nebeneinander auf Holzbänken. Es kommen Leute aus der Nachbarschaft zu uns. Und wir haben einen Luftschutzwart. Die Nachbarn grüßen mit »Heil Hitler!« und packen ihre Koffer in die Regale. Dann verkriechen sie sich in Mäntel und Decken. Es wird nicht viel geredet.
Die Gasmasken glotzen mich mit ihren riesigen Augenhöhlen und aufgestülpten Rüsseln an wie Ungeheuer. Sie liegen in einem Schränkchen an der Tür und sind aus schwarzem Gummi. Sie stinken widerlich. Immer wieder warte ich auf das Sirenensignal für den Gasalarm, der zum Glück auch heute nicht ertönt. Dann müssten wir die Masken nämlich über den Kopf ziehen.
Meine Mutter sitzt zwischen Hans und mir und hält uns im Arm. Mein Vater hat sich neben mich gesetzt. Auf den Knien hält er eine Tasche mit unseren wichtigen Papieren. Opa Bröker, der Luftschutzwart, steht an der Tür und behält alles im Auge. Er ist ein freundlicher alter Mann, der mit dem Stahlhelm auf dem Kopf ziemlich wichtig aussieht. Draußen beginnt die Flak zu schießen.
Nach einer Weile stößt mein Vater mich an. »Ich habe etwas für dich. Es ist jetzt vielleicht nicht ganz der richtige Moment, aber ich bin so gespannt, wie du es findest.« Er lächelt mich an, kramt in seiner Manteltasche. Meine Mutter und Hans rücken näher. Papa holt ein kleines Päckchen hervor, um das ein rotes Geschenkband gewickelt ist.
Ich habe schon immer gerne Geschenke ausgepackt. Langsam und behutsam löse ich die rote Schleife.
Juwelier Dörrie
steht in goldenen Buchstaben auf dem Kästchen. Vorsichtig öffne ich den Deckel. Das Innere ist mit dunkelblauem Samt ausgeschlagen. Das spärliche Bunkerlicht fällt auf ein wunderbar schimmerndes Schmuckstück. Es ist ein silberner Schmetterling, der einen hellen goldgelben Bernstein einfasst.
Mir bleibt fast das Herz stehen. Ich nehme die Brosche und lege sie mir in die geöffnete Hand. Meine Finger zittern. Im Bernstein ist eine Spinne eingeschlossen.
»Oh«, sagt Hans, »Juwelen für die Prinzessin.«
»Freust du dich nicht?«, fragt mein Vater unsicher. »Oder hast du Angst vor Spinnen?«
»Nein, nein. Sie ist wunderschön. Sieh nur, wie warm der Stein leuchtet, und sieh nur diese Spinne. Ich glaube, ich habe so eine Brosche schon mal gesehen. Woher hast du sie, Papa?« Ich kann nicht anders. Ich muss fragen.
Er lächelt. »Der Schmetterling ist mir zugeflogen. Einfach so.«
Ich schließe meine Hand zu einer Faust. Wie kann das sein? Diese Brosche hat Mathilda gehört. Zugeflogen?
»Aber ein Schmetterling aus Silber, ein Bernstein mit einer eingeschlossenen Spinne, das ist bestimmt selten. Verrate mir doch bitte, woher du sie hast.«
Ich reiße mich zusammen, spreche langsam, obschon meine Unruhe immer stärker wird.
Mein Vater sieht mich überrascht, aber auch enttäuscht an. »Ich habe gedacht, du fällst mir vor Freude um den Hals. Ich sah sie bei
Dörrie
in der Auslage, und ich dachte, sie gefällt dir.«
»Ich kenne das Mädchen, das sie getragen hat.«
»Was du nicht sagst. Kenne ich sie auch?«
Ja, Papa, antworte ich im Stillen. Du hast sie gekannt. Aber jetzt willst du sie nicht mehr kennen.
Doch das sage ich nicht,
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