Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
Schubert – aus familiären Gründen verkaufen mussten. Das Haus war weiß Gott kein Schnäppchen. Aber es ist jede Mark wert. Wir sind seit ein paar Tagen hier und richten uns langsam ein.«
»Herr Schubert ist auch Arzt«, sage ich, »aber ein richtiger.«
»Oh, vielen Dank.« Trotz meiner Unverschämtheit lächelt Herr Schleebusch mich an.
Seine Frau sagt: »Wieso hast du Mathilda denn aus den Augen verloren? Ich meine, sie könnte dir doch wenigstens schreiben.«
»Ich weiß auch nicht. Es kam alles so plötzlich. Und als ich eben sah, dass jemand im Haus ist, dachte ich, alles ist wieder gut.« Ich trinke noch einen Schluck Tee. Er ist jetzt lauwarm.
Die Frau scheint noch etwas sagen zu wollen. Ich sehe, dass Herr Schleebusch unmerklich mit dem Kopf schüttelt. Sie bringen mich zur Tür. Bella ist nicht mehr zu sehen.
Sie schauen mir nach. Ich nicke ihnen kurz zu und gehe, ohne zu zögern, zu meinem Fahrrad.
Ich will nun auf dem kürzesten Weg nach Handorf. Mit Herrn Berning kann ich reden. Ob er etwas von den Schuberts weiß?
Hinter der Eisenbahnunterführung muss ich bremsen und vom Rad steigen. Von einem Pferdefuhrwerk werden Kohlensäcke abgeladen und vor ein Kellerfenster auf den Gehweg geschüttet. Ein alter Mann schaufelt Kohlen. Eine Frau in einer Kittelschürze steht auf einem Besen gestützt daneben und bewacht den Kohlenberg und den Mann. Sie hat eine Hand fest auf ihre breiten Hüften gestemmt und hält in der anderen Hand einen Besen, die Borsten gegen den Himmel gestreckt. Fast sieht sie aus wie ein Soldat, der Wache steht.
Es beginnt zu nieseln. Gleich wird es regnen, und die Frau kann nichts dagegen tun, außer dem fluchenden Alten Beine zu machen. Ich muss laut auflachen – und fast gleichzeitig entdecke ich meinen Vater auf der anderen Straßenseite.
Er trägt Uniform und betrachtet die Obstkisten eines Gemüsegeschäftes. Er scheint es nicht eilig zu haben. Und dann sieht er plötzlich in meine Richtung. Was, wenn er mich gesehen hat? Er weiß genau, dass das hier die Straße zum Reiterhof ist.
Ich ducke mich und fummele an meinen Strümpfen herum. Als ich wieder aufsehe, ist er verschwunden. Hat er mich nun gesehen oder nicht?
Es regnet jetzt heftiger. Ich muss ihm zuvorkommen. Ich werde zur Gutenbergstraße fahren und so tun, als wollte ich ihn besuchen. Er mag das eigentlich nicht. Aber mir fällt nichts Besseres ein. Heftiger Regen prasselt auf den Asphalt. Der alte Mann und die Frau in der Kittelschürze verziehen sich in einen Torbogen, ihre Kohlen keinen Moment aus den Augen lassend. Eng an die Hauswände gedrückt, schiebe ich mein Fahrrad bis zur Gutenbergstraße.
Vor dem Haus stehen zwei Männer in schwarzen Uniformen im überdachten Eingang auf der Treppe. Der eine ist groß und kräftig, der andere eher klein und dicklich. Sie scheinen auf jemanden zu warten. Am anderen Ende der Straße taucht jetzt mein Vater auf. Wegen des Regens geht er sehr schnell und zieht den Kopf in den hochgeschlagenen Mantelkragen. Ich drücke mich in einen Hauseingang. Die beiden Männer treten auf den Gehweg, schlagen die Hacken zusammen und grüßen mit erhobenem Arm. Mein Vater erwidert den Gruß, und sie schütteln sich die Hände. Ich kann nicht verstehen, was sie sagen. Der Kleine sieht auf seine Armbanduhr und zuckt mit den Achseln. Vater klopft ihm auf die Schulter, dann deutet er auf einen Wagen, der die Einfahrt zum Hof blockiert. Der kleine Mann macht eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. Mein Vater betritt die Gestapoleitstelle.
Ein schwarzes Auto fährt an mir vorbei und bremst scharf vor dem Eingang. Der große Mann reißt die hintere Tür des Wagens auf.
»Los, raus!«, höre ich ihn rufen.
Ein Bündel fliegt aus dem Wagen und landet auf dem Pflaster. Der kleine Dicke zerrt es hoch, und ich kann erkennen, dass es ein Mensch ist, ein blasser Junge in einem auffälligen Anzug, dem die langen Haare wirr im Gesicht kleben. Ich glaube, ich habe ihn schon einmal gesehen … Er trägt Handschellen und blutet aus der Nase. Die beiden greifen ihm unter die Arme und zerren ihn die Treppe hinauf. Bei den Swings habe ich ihn gesehen. Sein Kopf knallt dumpf gegen die Tür. Der Dicke lacht. Im ersten Stock geht in einem Fenster das Licht an – im Büro meines Vaters.
Werners wütende und abweisende Stimme klingt mir im Ohr. Plötzlich verstehe ich: Er weiß irgendwoher, dass ich meinem Vater von den Swings erzählt habe. Dabei wollte er das gerne selber in die Hand nehmen.
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