Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
zu. Das tut gut. Es nimmt mir ein wenig mein Lampenfieber.
Wir überqueren vor dem Hauptbahnhof die Adolf-Hitler-Straße und biegen in die Hafenstraße. Der Verkehr wird dichter, und unter der Unterführung am Güterbahnhof müssen wir absteigen und schieben. Eine lange Kolonne schwerbeladener Lastwagenungetüme der Wehrmacht dröhnt an uns vorbei. Die Tunnelwände scheinen zu vibrieren, und wir ziehen unwillkürlich den Kopf ein. Es riecht nach Dieselöl und verbranntem Gummi. Die Abgaswolken hängen unter dem Tunnelgewölbe. Ich glaube, man könnte in dem Lärm das eigene Wort nicht verstehen. Auf der Kreuzung regelt ein Polizist mit Handzeichen den Verkehr. In der Luft liegt der rußige, beißende Mief der Dampflokomotiven. Hinter Kiesekamps Getreidemühle und den hohen Silos der Speicher mischt sich der Geruch von Pferdemist darunter. In den Viehhallen der
Halle Münsterland
stehen Pferde der Wehrmacht und warten auf ihren Transport an die Ostfront. Hans hat mir von einem Pferdelazarett erzählt. Sein HJ -Fähnlein wird hier häufig eingesetzt. Sie arbeiten in den Ställen und den Werkstätten oder helfen beim Beladen der Lastwagen.
Der Platz vor der Veranstaltungshalle wird in der Sonne gebacken. Die Hitze lässt die Luft über dem Asphalt flirren. Das mächtige Tonnengewölbe der Haupthalle türmt sich vor uns auf. Die Fensterfront auf der Vorderseite ist mit schwarzen Planen abgedeckt. Die Eingangshalle mit den Kassenhäuschen hat einen Bombentreffer abgekriegt. Die Lastwagenkolonne biegt auf den Platz. Motoren röhren und sprudeln Qualmwolken. Heiße Luft umweht uns. Überall sind Soldaten rastlos unterwegs.
»Meine Güte«, staunt Gertrud, »ich war schon lange nicht mehr hier. Das hat sich aber mächtig verändert! Mein Vater wollte mich immer zu den Radrennen mitschleppen.«
»Und meiner zu den Großveranstaltungen der Partei. Zehntausend passen in die Halle.«
Ein Lastwagen hupt uns an.
»Passt auf, Mädchen! Sonst kommt ihr noch unter die Räder«, ruft der Fahrer.
Ich ziehe Gertrud beiseite und deute mit dem Kinn in Richtung der Straßenbahnhaltestelle.
»Komm, Gertrud, wir stellen uns da hin. In dem Trubel finden uns die Mädel sonst nie.«
Nach und nach trudeln die anderen ein. Maria hat ihre Gitarre auf den Gepäckträger gebunden, Johanna balanciert eine Hacke auf dem Lenkrad, und Klara bringt noch eine Gießkanne mit. Alle sind pünktlich, nur Hedwig kommt als Letzte angehetzt. Ihre Haare kleben auf ihrer verschwitzten Stirn, und die oberen Knöpfe ihrer Bluse stehen offen.
»Kinder, bin ich froh, von zu Hause wegzukommen. Wäre jetzt kein Dienst, müsste ich mich um meine rotznasigen Brüder kümmern und mir Mamas Genörgel anhören.« Hedwig lächelt breit. »Puh! Ich zähle immer schon die Stunden zwischen unseren Treffen und mache Kreuzchen. Wenn ich euch nicht hätte …«
»… und wenn wir dich nicht hätten, Hedwig, könnten wir pünktlich anfangen!«, sage ich streng.
Ich stehe jetzt ganz nahe vor ihr, rieche ihren Schweiß und bemerke, wie sie zusammenzuckt. Ihr Mund steht vor Schreck leicht offen.
»Was ist los mit dir?«, frage ich, halte ihr meine Armbanduhr unter die Nase und tippe mit dem Zeigefinger auf das Zifferblatt. »Meinen ersten Dienst als Schaftführerin hätte ich gerne anders begonnen. Du bist sieben Minuten zu spät. Und bring deine Uniform in Ordnung!«
Hedwig beginnt hilflos und mit fahrigen Bewegungen an ihrer Bluse herumzufummeln.
»Etwas mehr Einsatz für unsere Sache würde dir gut zu Gesicht stehen«, setze ich noch hinterher.
»Es tut mir leid, Paula«, stottert sie, »kommt nicht wieder vor.«
Gerade will ich mich noch ausführlich über Pünktlichkeit, Ordnung und Disziplin auslassen, als ich die sanfte Stimme Gertruds höre.
»He, ihr beiden, macht mal langsam. Das ist heute so ein schöner Tag, und ihr …?«
Ich fahre herum. Ausgerechnet Gertrud widerspricht mir? Gertrud, die mich sonst immer unterstützt und die ich immer auf meiner Seite weiß? Dabei ist es doch so einfach, nur das zu tun, was von uns erwartet wird!
»Der Führer greift auch mit Härte durch. Wenn es sein muss, mit unerbittlicher Härte.« Das kann nur von Klara kommen. Die kleine, altkluge Klara, die jeden Spruch mit ihrer piepsigen Stimme nachbetet.
Der Führer braucht mich,
das sagt sie ständig. Manchmal ist mir diese Sprücheklopferei zu viel. Aber es gibt Mädchen, die das immer wieder hersagen. Klara gehört ganz sicher dazu. Man könnte meinen, sie hätte
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