Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
verschatteten Figuren, deren helles Lachen durchzogen wird von gespenstischer, wilder Angst. Wenn wir Lust haben, dürfen wir in dem Atelier malen. Dann tupfen wir Gelb, Rot und Orange auf kleine weiße Flächen. Ein Zauber geht von unseren Farben aus, die so ganz anders sind, als die, die Mathildas Mutter verwendet.
Ich liege in meinem Bett, und in meinem Kopf vermischen sich Bilder, Gesichter, Räume und Geräusche, und ich schlafe glücklich ein.
Am nächsten Tag wartet Mathilda nach der Schule an unserem Gartentörchen. Begeistert erzähle ich ihr von der gestrigen Feier, von meiner Ernennung zur Schaftführerin, und Mathilda freut sich riesig für mich und gratuliert mir. Sie ist nicht im BDM . Wenn ich sie danach frage, ihr sage, dass sie doch auch ihren Beitrag für den Führer und das ganze Land leisten muss, weicht sie mir aus. Sie sagt, sie will Ärztin werden, und ihre Eltern sind der Meinung, sie solle ihre Ausbildung vernünftig beenden. Dann könne sie viel mehr für das Land und die Menschen tun.
Jetzt hakt sie sich bei mir ein und flüstert geheimnisvoll: »Ich will dir etwas zeigen.« Ich lasse mich mitziehen. Weiter geht es die Promenade unter den Linden entlang, an der zerstörten Synagoge * vorbei bis zu einem kleinen Löschteich. Sie steigt mit mir bis an das schmale Ufer hinab. Immer wieder schaut sie nach rechts und links, doch niemand ist zu sehen. Dann bleibt sie hinter einem mächtigen Baum stehen, nimmt meine Hand und führt sie in einen Hohlraum, der sich auf der Rückseite des dicken Stammes gebildet hat. Verschwörerisch sieht sie mich an.
»Wir sehen uns nur noch so selten. Du bist entweder bei einem Arbeitseinsatz oder ich muss lernen. Das hier wird unser Geheimbriefkasten.« Bei dem letzten Satz wird ihre Stimme leise, und einen winzigen Moment lang legt sich ein Schatten um ihren Mund. »Wir können uns Briefe schreiben und sie hier in unser geheimes Versteck legen. Wir verabreden uns zum Beispiel zum Reiten, und deine Eltern werden es nie erfahren. Alles völlig geheim«, sagt sie und lächelt wieder.
Ich bin begeistert. Das ist eine gute Idee, richtig spannend!
»Du kannst mir dann ja auch mal was über Werner Reuter schreiben …«, sagt sie grinsend.
»Wie kommst du denn jetzt auf Werner?«, frage ich und tue ganz unschuldig.
»Glaubst du, ich hätte nicht gemerkt, dass du für ihn schwärmst? Ich bin deine beste Freundin, der kannst du nichts verheimlichen, auch wenn wir uns nur noch selten sehen.« Wir müssen beide lachen.
»Also«, fragt Mathilda noch einmal, »was hältst du davon? Wir schreiben uns, egal was passiert!«
»Ja, natürlich, wir schreiben uns. Und was soll denn schon passieren? Aber niemand darf die Briefe finden«, flüstere ich jetzt, als würden hundert Ohren uns belauschen. Ich schaue suchend über den Boden und entdecke einen glänzenden schwarzen Kieselstein. Er passt genau in das Loch.
»Jetzt kann es nicht reinregnen«, sage ich lachend, doch ich werde sofort wieder ernst.
»Verlässt du mich nicht, verlass ich dich auch nicht.«
Wir stehen hier verborgen in der hellen Augustsonne, die die ersten herabwirbelnden Lindenblätter in ihrem Tanz auf die Erde bescheint, legen unsere Hände ineinander und erneuern unseren Schwur. Das Licht bricht sich in Mathildas Bernsteinbrosche, dunkel schimmert die im gelben Harz eingeschlossene Spinne. Ich schaue in Mathildas große tiefbraune Augen, zupfe verspielt an dem violetten Band, das heute ihre kastanienbraunen Locken zusammenhält und bemerke ein leichtes Zittern ihres Kinns, das sie aber sofort durch ihr breites Lächeln auffängt. Ein Geheimbriefkasten mit einer besten Freundin, das ist schon etwas Besonderes und eine richtig feierliche Angelegenheit.
Wir verabreden uns für übermorgen bei Berning, und während Mathilda die Promenade in Richtung Kanonengraben läuft, nehme ich den Weg durch die Stadt. Vor dem Rathaus am Prinzipalmarkt sind einige Marktstände aufgebaut. Blumen werden angeboten und Gemüse. Neugierige begutachten die Waren. Jede Gelegenheit, für den Winter vorzusorgen, wird wahrgenommen. Wer weiß, wie lange der Krieg noch dauern wird.
2. Gut, dass wir uns haben
Unser Häuschen schmiegt sich schmal und grau links an die
Schreinerei Heitkamp
und rechts an Wellermanns hellroten Klinkerbau. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite türmen sich zwei Schuttberge. Auf ihnen beginnt das Unkraut zu wachsen.
Im letzten Sommer hatten wir trotz des Krieges Blumenkästen an den
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