Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
den Kanal zu bringen. Ich könnte heulen und lehne mich an das Brückengeländer, während die Mädchen den Reifen und den langen Riss darin begutachten.
»Na, Schaftführerin«, sagt Franziska. »Gar nicht so einfach, oder?«
Auch das noch. Franziska hat sich die ganze Zeit merkwürdig im Hintergrund gehalten. Dabei ist sie es doch, die immer so ungeheuer scharfsinnig ist, so klug, so überlegen. Eigentlich will sie immer die erste Geige spielen. Andererseits hat sie es gar nicht nötig, auf meinen Posten eifersüchtig zu sein. Mit einem Bein ist sie schon in Berlin. Ihr Vater hat eine einflussreiche Position in der Partei, und ihre Mutter ist eine bekannte Theaterschauspielerin, die unbedingt zum Film will.
Wir ziehen nach Berlin in die Nähe des Führers
, das ist Franziskas Lieblingssatz.
»Ach, Franziska. Heute hab ich einfach nur Pech«, sage ich.
»Ich weiß. Mach dir nichts draus. Es kommen auch andere Tage, und du kannst doch wirklich nichts dafür. Es gibt keinen Grund, den Mut zu verlieren.« Franziska legt ihren Arm um mich. So etwas tun sonst eigentlich nur meine Mutter oder Mathilda. Dann fügt sie noch hinzu: »Ich glaube, du bist eine gute Schaftführerin, und du wirst eine erstklassige Scharführerin.«
Es tut mir gut, zu wissen, dass ich mich auf Kameradinnen wie Franziska, Gertrud und Johanna verlassen kann. Und auf die anderen sicher auch.
»Weißt du, was eine gute Führerin auszeichnet?« Franziska macht eine aufmunternde Kopfbewegung.
»Dass sie nie …«, beginne ich.
»Nein, Paula. Dass sie gut improvisieren kann, so wie du.«
»Mensch, Franziska. Du bist eine echte Freundin.«
Franziska nimmt ihren Arm von meiner Schulter und gibt mir einen aufmunternden Klaps.
»Also gut, Mädels.« Meine Stimme ist jetzt wieder fest und selbstbewusst. »Das Glück verfolgt uns heute nicht gerade. Aber der Garten wartet. Wir machen es so: Das kaputte Fahrrad lassen wir hier stehen, und ich nehme Emmy auf meinen Gepäckträger. Ab hier geht es bergab, und auf dem Rückweg wechseln wir uns ab. Der Nachmittag ist noch jung, und das Gemüse braucht dringend Wasser.«
Wie blaue Seide spannt sich der Himmel über die grünen Wiesen. Nur von Hecken und Zäunen unterbrochen, verschmelzen sie in weiter Ferne mit dem Horizont. Kühe ziehen träge grasend über die Weiden oder liegen wiederkäuend im Schutz der Wallhecken.
Im Garten angekommen, lasse ich meine Mädelschaft antreten. Wir beginnen den Dienst mit dem Deutschen Gruß * und einem Lied, das Maria auf der Gitarre begleitet. Bevor wir uns auf Kartoffeln, Gemüse und Unkraut stürzen, sage ich noch ein paar Worte über die Notwendigkeit unseres Dienstes und frage in die Runde, ob jemand noch etwas hinzufügen möchte. Maria meldet sich.
»Ich wollte euch erzählen, dass meine Mutter am Erntedankfest das Mutterkreuz * bekommen wird. Ihr wisst doch, dass mein Vater vor zwei Jahren wieder Arbeit als Verkäufer gefunden hat, damals, als fast alle Geschäfte ihre jüdischen Angestellten entlassen haben. Und deshalb haben meine Eltern ja noch meinen kleinen Bruder Josef bekommen, jetzt, wo wir wieder gut leben können. Sechs Kinder! Wisst ihr, was das heißt? Das silberne Mutterkreuz!« Stolz schaut sie uns an. Wir alle freuen uns mit Maria und klopfen ihr kameradschaftlich auf die Schulter.
»Ihr seht, was der Führer für uns tut«, sage ich. »Also los, Mädels, tun wir unsere Pflicht für den Führer.«
Nachdem die Gartenarbeit erledigt ist, hält Gertrud es nicht mehr aus. Sie hat ihre Fotos mitgebracht, die Fotos von der Sonnwendfeier * . Endlich war der Film voll, und sie durfte ihn entwickeln lassen. Wir rufen durcheinander: »Zeig mal!« – »Sieh mal hier.« – »Das war so schön!« Alle schwärmen noch von dem Fest der Sonnwendfeier vor einigen Wochen.
In die Baumberge sind wir gefahren, zum Longinusturm. Oben am Turm hatten die Bauern einen gewaltigen Holzstoß zusammengetragen und aufgeschichtet. Von allen Seiten sammelten sich die Menschen unten am Weg, und mit beginnender Dunkelheit durften wir, die Mädchen und Jungen der HJ * , unsere Fackeln entzünden. In einem nicht enden wollenden Zug marschierten wir den Weg hinauf, erleuchteten die Nacht und sangen dabei das Lied der Sonnwendfeier:
Flamme empor! Flamme empor!
Was für ein Jubelgesang, der über die Wiesen bis hinab ins Dorf erklang!
Wir wollten gar nicht mehr aufhören zu singen, doch dann trat Werner Reuter vor und sagte mit ruhiger, klarer Stimme den ersten
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