Vaters böser Schatten
aber sie ist eben nicht nur Mutter. Das war sie nie. Sie geht viel aus, hat Verabredungen und“, jetzt lachte er leise, „vermutlich mehr Sex, als die gesamte Oberstufe zusammen. Michelle hört oft, dass ihre Mutter eine … Nutte sei. Das belastet sie. Sie steht hinter ihrer Mum, aber es in der Schule zu hören, ist nicht schön. Ich denke, ich habe sie einfach in Schutz genommen. Ein Wort ergab das andere und … naja, irgendwann waren es nicht mehr nur Worte, die hin und her geflogen sind.“
„Sie haben sich geprügelt.“ Eine sachliche Feststellung, kein Vorwurf.
„Ich habe mein Mädchen verteidigt.“ Ryan zuckte mit den Schultern. „Man beleidigt mein Mädchen nicht ungestraft.“
Dr. Ramos betrachtete ihn einen Moment. „Bereuen Sie es im Nachhinein?“
„Was? Dass ich den Typen eine verpasst habe? Nein. Warum sollte ich?“
„Nun, vielleicht weil Sie einen anderen Menschen verletzt haben. Oder weil Sie wissen, dass man Konflikte nicht zwangsläufig mit Schläge lösen kann.“
„Das ist mir egal, Sir. Und glauben Sie, ich wurde auch verletzt. Ich habe nicht nur ausgeteilt. Das hat nichts mit Aggressionen zu tun. Ich verteidige meine beste Freundin. Die Typen verdienen es nicht anders.“
„Ryan, was denken Sie auf einer Skala von eins bis zehn, wobei eins sehr niedrig und zehn sehr hoch ist … wo liegt Ihre Hemmschwelle zuzuschlagen?“
Verwirrt runzelte Ryan die Stirn. „Was ist das für eine Frage? Ich weiß nicht … Es kommt auf die Situation an. Wenn es um Michelle geht … vermutlich bei sieben oder acht. Keine Ahnung.“
„Das ist hoch.“
„Das ist vertretbar. Ich meine, ich beschütze sie nur.“
„Man kann einen Menschen auch beschützen, indem man weghört, weiter geht, die Dinge nicht zu sehr an sich heran lässt.“
„Glauben Sie mir, würden Sie die Typen kennen, würden Sie auch nicht einfach vorbeigehen.“
„Doch, ich denke, das würde ich. Und Ryan, ich kenne solche Typen. Will Michelle das? Dass Sie sich für sie prügeln?“
„Weiß nicht. Hab nie gefragt.“
„Wie reagiert sie denn?“
„Naja, sie strahlt mich nicht an. Sie sagt dazu nichts mehr. Früher ja … da hat sie gesagt, ich sollte das nicht tun. Aber mich regt das dann einfach auf. Ich kann da nicht ruhig bleiben.“
„Warum nicht?“
„Warum nicht? Was meinen Sie?“, fragte Ryan ungehalten. „Die Kerle beleidigen meine beste Freundin und ich soll stumm daneben stehen und zuhören?“
„Zum Beispiel. Gewalt erzeugt Gegengewalt. Kennen Sie den Spruch?“
Wieder zuckte Ryan die Schultern. „Klar, aber mein Mädchen beleidigt man nicht.“
Dr. Ramos lehnte sich zurück, musterte Ryan. „In welchen Situationen reagieren Sie noch aggressiv?“
Den Blick erwidernd, schwieg Ryan. Er wollte nicht über seinen Vater reden. Er sah ihn nur herausfordernd an.
„Wenn man auf Ihren Vater zu sprechen kommt?“
„Darauf reagiere ich nicht. Nicht mehr.“
„Hm … und warum nicht?“
„Weil der Mensch für mich nicht mehr existiert, okay? Das sagte ich doch schon.“
„Ryan, er scheint ein Teil Ihres Lebens zu sein. Das können Sie nicht einfach ausblenden. Aber gut. Erzählen Sie mir von ihrer Kindheit. Wie sind Sie aufgewachsen?“
„Hm … ich bin auf der Farm groß geworden. Mein Großvater hat sie damals noch geführt. Meine Großmutter habe ich nicht mehr wirklich kennen gelernt. Sie starb ein Jahr nach meiner Geburt. Großvater war toll. Er hat mich Kind sein lassen. Ich bin über den Hof gerannt, habe mit den Gänsen Fangen gespielt, mit Bausteinen eine ganze Welt aufgebaut, in der meine Spinnen lebten. Zumindest erzählt meine Mutter das immer. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.“
„Was ist Ihre erste Kindheitserinnerung?“
Nun musste Ryan nachdenken. „Ich war … fünf. Ich kann mich an einen Spielplatz erinnern, auf den meine Mutter mit mir immer gegangen ist. Da habe ich Michelle kennen gelernt. Wir haben uns gehasst. Alle haben mich gehasst. Heute sagen sie, dass ich ein kleiner, eingebildeter Wicht war.“ Er grinste leicht. „Ich habe mich wie der King vom Spielplatz aufgeführt, bis zu Michelles Geburtstag. Da habe ich gesehen, wie weh es tut, allein zu sein. Alle waren eingeladen, nur ich nicht. Susan hat mich eingeladen, über Michelles Kopf hinweg. Es war … einer der schönsten Tage meines Lebens. Ich habe es so genossen.“
„Sie sagten, dass Ihr Großvater Sie Kind hat sein lassen.“
Ryan nickte langsam. „Ja, er hat nie von mir verlangt,
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