Vaters böser Schatten
sie immer noch nicht begriffen. Ich muss nicht ständig auf Partys gehen oder im Club feiern. Ich finde es viel schöner, abends am Anbinder zu sitzen und den Tag ausklingen zu lassen. Vielleicht wurde ich zu lange in Schach gehalten, als dass ich jetzt so einfach da rauskäme.“
Dr. Ramos lächelte. „Sie sind ein Gewohnheitstier geworden, nicht wahr?“
Ryan ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. „Ja, irgendwie schon. Ich mache seit meinem dreizehnten Lebensjahr nichts anderes. Klar, es ist schön, zu wissen, dass man abends auch mal weggehen kann, aber es ist für mich zu einer Selbstverständlichkeit geworden, zu arbeiten. Julius schmeißt mich oft aus den Ställen und sagt, dass ich mich amüsieren gehen soll. Ich weiß meist gar nicht, wie das geht.“
„Sich zu amüsieren?“
„Ja. Wenn Sie stets nach der Schule gearbeitet haben, dann erscheint es falsch, plötzlich irgendwo rumzuhängen. Man denkt automatisch darüber nach, was noch alles zu tun ist. Und sei es nur einen Stall ausmisten.“ Langsam schüttelte er den Kopf. „Leon redet auch oft auf mich ein. Er sagt, dass ich leben soll. Dass ich jetzt die Chance habe, endlich zu leben. Aber manchmal frage ich mich, ob die Arbeit auf der Farm nicht meine Art zu leben ist. Ich habe kein Problem damit, zuzupacken, mich schmutzig zu machen. Es mag in den Ohren anderer Jugendlicher verrückt klingen, aber wenn ich mir abends den Dreck aus dem Gesicht waschen kann, dann bin ich glücklich. Warum bin ich vorher davor geflohen?“ Er stellte die Frage mehr sich selbst, als dem Arzt.
„Das weiß ich nicht … was denken Sie?“
Ryan schaute auf seine Finger. „Es ist kein Zwang mehr. Ich kann die Heugabel hinwerfen, wenn ich keine Lust mehr habe und niemand nimmt es mir übel. Der Zwang ist weg. Ich mache es wirklich gern.“ Er sah auf. „Es steht niemand hinter mir, der mir droht.“
„Sie sind Ihr eigener Boss, Ryan.“
„Jaah, und das ist ein irres Gefühl. Ich kann mich den Schafen widmen, weil ich es will und nicht, weil es angeordnet wird. Ich muss keine Arbeit machen, die mir total zuwider ist.“
„Und welche Arbeit ist das?“
„Ich hasse es, die Tiere für den Schlachter auszuwählen. Ich will das nicht. Ich will nicht Gott spielen und entscheiden, dass dieses Tier sterben muss und jenes nicht. Ich … habe es gehasst. Aber er hat mich dazu gezwungen. Weil er wusste, wie ich mich dabei gefühlt habe. Dass ich hätte heulen können, wenn mich dieses Schaf angeschaut hat, als wolle es sagen: ‚Bitte, meine Zeit ist noch nicht herangekommen.’ Und ich stehe da und antworte: ‚Oh doch, weil er es so will.’ Das ist … Gott spielen. Ich will das nicht. Wir arbeiten auch mit einem Schlachter zusammen, aber der sucht die Tiere selbst aus. Ich habe damit nichts mehr zu tun. Das macht er mit Julius aus und meist verdrücke ich mich auch, wenn der Metzger da ist.“
„Und er hat es von Ihnen verlangt, weil er wusste, dass er Sie damit quälen konnte?“, fragte Dr. Ramos und lenkte Ryan bewusst in diese eine bestimmte Richtung.
„Ja … er hat es getan, weil er wusste, dass er mich damit ärgern kann. Weil er wusste, dass ich es gehasst habe. Er hätte es selbst machen können, aber nein … er hat mich losgeschickt.“
„Was hat er getan, wenn Sie sich geweigert haben?“
Ryan sah nicht auf, als er die nächsten Worte flüsterte: „Er hat zugeschlagen.“
Schweigen, welches in Ryans Ohren dröhnte. Er hatte seinen Blick stur auf seine Hände gerichtet, die Finger ineinander verhakt. „Er hat mich geschlagen. Er wusste, wie er mich runterdrücken konnte. Er hat mit mir gespielt, mit meinen Gefühlen …“
Plötzlich sprang Ryan auf, verließ beinahe fluchtartig den Raum, die Praxis und holte draußen tief Luft. Die Hände hatte er auf die Knie gestützt und mit geschlossenen Augen kämpfte er gegen eine Wutattacke an, die ihn so plötzlich kochendheiß überfallen hatte. Immer wieder atmete er tief ein und aus. Dann setzte er sich auf sein Fahrrad, raste den ganzen Weg zurück durch Mountain Creek durch, bis zu den Bahngleisen. Er war lange nicht hier gewesen. Nicht seit Thanksgiving. Er hatte es Leon versprochen, und doch konnte er nicht anders. In seinem Kopf herrschte solch ein brüllendes Chaos, dass er keine andere Möglichkeit sah, als langsam die Bahngleise entlang zu gehen, in der Hand eine Zigarette, den Blick fest nach vorn gerichtet.
Als hätte er ein inneres Gespür dafür, wann die Züge kamen, erklang bald
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