Vaters böser Schatten
dass ich arbeiten muss. Er hat mich spielen lassen. Er hat mich … irgendwie die Welt entdecken lassen. Die Farm war meine Welt. Ist sie immer noch. Ich bin Tag und Nacht, bei jedem Wetter, in die entlegensten Winkel gekrochen. Nie war ich vor Einbruch der Nacht zurück. Ich habe am Bach gesessen und geangelt, habe mit den Tierkindern gespielt. Ich hatte nie andere Kinder bei uns zu Hause, weil alle zu weit weg gewohnt haben. Ich hab sie nur gesehen, wenn Mum mit mir auf den Spielplatz gefahren ist. Dann kam ich in die Schule und es war … seltsam, plötzlich die ganze Zeit andere Kinder um mich herum zu haben. Sie …“ Er sah auf und lachte leise. „Damals habe ich immer gesagt, dass sie gemein zu mir waren. Wir hatten nicht viel Geld zu der Zeit und meine Klamotten waren … gewöhnungsbedürftig. Ich war das Schweinekind. Der Junge aus dem Stall.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich denke, damals habe ich angefangen, mich zurückzuziehen. Ich habe mein Leben gelebt, so wie ich es für richtig hielt und das waren die Tiere. Ist bis heute so geblieben.“
„Sie haben eine starke Bindung zu den Tieren auf dem Hof?“
„Ja, hatte ich schon immer. Vor allem zu den Pferden. Ich war acht, als ich mein erstes, eigenes Pferd bekommen habe.“ Ryan schloss die Augen und schluckte hart. Noch heute, nach knapp zwei Monaten, hatte er schwer an Ashleys Verlust zu knabbern. „Meine Ashley …“, flüsterte er.
Dr. Ramos schwieg erneut, sah ihn nur an, während Ryan mit geschlossenen Augen weiter sprach.
„Sie kam aus dem Stall gestolpert. Sie war … gerade ein paar Tage alt. Großvater sagte zu mir, dass sie mir gehören würde. Dass ich mich gut um sie kümmern müsse. Ashley kam zu mir, stieß mich an und … von der ersten Sekunde an war ein … Band zwischen uns. Ich habe sie geliebt … mehr, als alles andere auf der Welt. Wir sind mehr oder weniger zusammen aufgewachsen. Großvater hat sie trainiert und ich habe sie gezähmt. So wie sie mich oft gezähmt hat. Wenn ich … meine Wut gespürt habe, bin ich zu Ashley gegangen. Sie hat mich wieder runtergebracht. Sie war … mein ein und alles. Als sie drei war, ist sie trächtig geworden. June gehörte mir. Das war … klar, Ashley ist ihre Mutter, also würde June ebenfalls mir gehören. Ich habe sie trainiert und heute ist sie eines der wenigen Dinge in meinem Leben, welches mir immens viel bedeutet.“
„Sie haben von Ashley in der Vergangenheit gesprochen, von June allerdings nicht.“
Ryan biss die Zähne zusammen und schwieg, doch dem bohrenden Blick konnte er nicht ausweichen. „Ashley ist vor zwei Monaten gestorben“, sagte er leise.
„Hatte sie einen Unfall?“
„Nein … die wurde … ermordet“, knurrte Ryan und hob den Blick. In seinen dunkelbraunen Augen blitzte es gefährlich.
Langsam nickte Dr. Ramos. „Wer hat sie getötet, Ryan?“, fragte er sanft.
Unruhig rutschte Ryan auf dem Sofa herum, änderte immer wieder seine Sitzposition. „Mein Vater“, presste er dann heraus.
Schweigend saßen die Männer einen Moment da.
„Ryan, ich würde Sie gern wieder sehen.“
Ryan sah auf, musterte den Mann. „Sie glauben auch, dass ich eine Therapie brauche, nicht wahr?“
„Nun, ich bin überzeugt, dass es vieles gibt, was Sie beschäftigt. Bitte kommen Sie wieder.“
Ryan stand auf und nahm seine Jacke. „Ich denke darüber nach. Vielen Dank.“ Er streckte dem Arzt die Hand entgegen, der sie gleich ergriff. Dann verschwand Ryan so schnell er konnte. Auf dem ganzen Weg nach Hause starrte er stur geradeaus, bewegte seine Füße auf den Pedalen mechanisch.
Wollte er das wirklich? Er war heute immer wieder ausgewichen, doch wollte er wirklich mit diesem Mann über Jonathan McCoy sprechen?
Als er eine Dreiviertelstunde später auf dem Hof ankam, stand Leon lachend mit Toby am Anbinder.
Ein heißer Schmerz durchfuhr ihn, als er sah, wie fröhlich sein Freund war, wo er doch gerade nur tiefschwarze Wolken im Kopf hatte. In diesem Moment war er sich sicher, dass er gar nicht dazu im Stande war, herzhaft zu lachen. Dass jedes Lachen in den letzten Monaten nur aufgesetzt war. Himmel, hatten wirklich alle recht? Konnte ihn sein Vater noch immer so hinunterziehen, obwohl er doch gar nicht mehr Teil seines Lebens war?
„Ryan?“
Erschrocken sah er auf, stellte fest, dass Leon genau vor ihm stand.
„Snoopy, was ist los? Du bist kreidebleich.“ Sanft streichelte Leons warme Hand über seine kalte Wange. „Ist etwas passiert?“
Ryan
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