Vatikan - Die Hüter der Reliquie (German Edition)
kommenden Abend besorgte, ließ er sich noch auf einen Espresso im Café San Laurenzio nieder. Normalerweise besuchte er das Café am Abend, da er die Unterhaltung mit der Wirtin, die die Spätschicht innehatte, schätzte. Heute Morgen schätzte er allerdings die freundliche Anonymität, die ihm erlaubte, darüber nachzudenken, was er Sapera suchen lassen würde.
Eine halbe Stunde später betrat er Saperas Büro. Dieser saß lässig gekleidet in schwarzer Jeans und schwarzem Hemd vor fünf Monitoren. Wofür ein Mensch mit zwei Augen so viele Monitore braucht, wo er doch nur immer auf einen sehen konnte, war Comitti ein Rätsel.
»Was kann ich für dich tun?«
Pater Comitti erklärte ihm sein Anliegen. Er bat um Verschwiegenheit und ließ den jungen Mann, der sogleich auf die Tasten einhämmerte, zurück. Die Zeit, die Sapera benötigte, wollte er sinnvoll nutzen und begab sich zur Bibliothek, um seinerseits zu recherchieren. Er war gespannt, wer zuletzt mehr herausfinden konnte. Er versuchte es in Geschichtsbüchern, blätterte in Registern, suchte die Namen Lucienne de Viellvient und Apollonia, gab ärgerlich auf und verließ die Bibliothek, um sich seiner Arbeit im Archiv zuzuwenden.
Sapera erschien zur verabredeten Zeit. »In der Zeitspanne, die du meintest, habe ich keine Einträge gefunden. Das hier«, er tippte auf ein paar lose Blätter, »ist das Einzige. Ich hoffe, es hilft dir weiter. Mehr ist aus dem Netz nicht herauszubekommen.« Pater Comitti nickte ihm zu. Er war erstaunt, dass er überhaupt etwas gefunden hatte. Er bedankte sich säuerlich – eins zu null für den Computer – und legte die Ausdrucke neben die Posteingänge. Wie immer pflichtbewusst wollte er erst seine Arbeit verrichten. Als sein Blick allerdings auf die Überschrift des Ausdrucks fiel, vergaß er den Poststapel. Comitti setzte sich und las. Er bekam eine Gänsehaut.
Der Text, den er gerade in den Händen hielt, konnte nicht von derselben Apollonia handeln, von der er und Arconoskij gerade lasen. Das war zeitlich nicht möglich. Möglich war allerdings das, was er auf der anderen Seite las. Er hatte Sapera ein Zitat genannt, das ihm seltsam vertraut war. Saperas Computer hatte eine Antwort gewusst. Seine Hand zitterte, er musste sich ablenken. Er sortierte die Posteingänge.
Den ganzen Nachmittag über blieb er unkonzentriert und ärgerte sich über seine Dummheit, und dass er überhaupt annahm, es könnte etwas Wahres an der Geschichte sein.
Die Zeiten passten einfach nicht zusammen. Aber was war Zeit? Nur eine Vorgabe, die sich der Mensch machte. Hatte Gott die Zeit erfunden? Die Einteilung in Jahrhunderte, Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden? Erdreistete sich nicht der Mensch, genau mit dieser Einteilung die Welt zu regieren? Wussten Tiere von Zeit? Hatte die Zeit, so wie man sie als Mensch kennenlernte, überhaupt etwas mit der Realität zu tun?
Comitti stand auf und beendete seinen Arbeitstag. Diese Gedanken brachten ihn nicht weiter. Ganz im Gegenteil, sie verstimmten ihn. Ein Physiker hätte ihm weiterhelfen können. Er hatte sich früher oft mit Physikern unterhalten. Wenn man sie auf ihr Thema brachte, konnten sie einem stundenlang erklären, was es mit der Zeit auf sich hatte. So weit er es begriffen hatte – nichts. Im nächsten Augenblick sahen sie auf die Uhr und verabschiedeten sich. Das hatte Comitti damals schon amüsiert.
Mit sich und seinen Gedanken grollend ging er zum Abendessen. Er betrachtete seine Mitbrüder mit wachem Blick. Gab es einen, der sich über ihn lustig machte? Blitzte irgendwo der Schalk in einem Gesicht auf?
Er entdeckte nichts Auffälliges und doch konnte er nicht glauben, dass das Manuskript nicht aus der Feder eines Spinners stammte. Er tastete nach Saperas Ausdrucken und schimpfte sich einen Narren. Der Sicherheitschef hatte sich eingeschaltet – musste dann nicht etwas Wahres an der Geschichte sein? Er wusste es nicht. Das Einzige, was gegen seinen Zweifel helfen würde, wäre weiterzulesen.
Rom, Vatikanstadt
2. November 2012, nachts
Er überhörte die Abendandacht, bat mit einem Stoßgebet um Verzeihung und war einer der Ersten, die die Kirche verließen. Erstaunte Blicke folgten ihm. Doch an Schlaf war nicht zu denken.
Er schloss die Tür zu seinem Raum auf und fand ihn leer. Das freute ihn einerseits, weil er befürchtet hatte, dass Arconoskij auf ihn wartete, andererseits sah er nervös auf die Uhr. Er überbrückte die Wartezeit,
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