Vatikan - Die Hüter der Reliquie (German Edition)
zu ihr.
»Siehst du das Kloster? Mit all seinen Schwestern liegt es in meiner Verantwortung. Seelisch wie körperlich haben sie sich meinem Schutz anvertraut.« Ich verstand, was sie meinte, nahm ihre Hand und drückte sie. Wir wussten beide, dass ich damit mein Versprechen erneuerte. Wir blieben noch eine Weile dort oben stehen und sahen über das im Dunkel liegende Land. Ich genoss mit jeder Faser meines Körpers den einzigartigen Duft der Nacht.
Schwester Theresa erzählte mir von ihren Plänen – mutigen Plänen, ehrgeizigen Plänen. Sie wollte neue Klöster gründen, genau solche, wie sie es heute führte. Ich versprach, ihr zu helfen, wo ich nur konnte. Sie nahm mich beim Wort. Ich sollte die Bibliothek ordnen, die Bücher, die sie mir zurechtgelegt hatte, vervielfältigen und Briefe für sie schreiben. Ich konnte ihren vielen Ideen kaum folgen.
Allerdings machten mir die aufgetragenen Arbeiten keine Sorgen, denn ich hatte noch eine Veränderung an mir festgestellt: Ich war schnell geworden. Viel schneller, als es normalerweise möglich gewesen wäre. Ich konnte in nur einer Nacht vierzig eng beschriebene Seiten kopieren. Das war mir aufgefallen, als ich ein Buch kopierte, dessen Inhalt mich langweilte.
Solange ich noch Werke kopierte, die über Vampyre handelten, versuchte ich, zu verstehen, was dort geschrieben stand und schrieb langsam. Doch bei einem Werk über Gartenbau und Pflanzen erkannte ich zu meinem Schrecken, dass ich das Buch, für das ich normalerweise Nächte gebraucht hätte, fast schon beendet hatte. Als Nächstes fiel mir auf, dass ich mich an jede Zeile erinnern konnte. Ich hätte jederzeit einen Vortrag über Gartenbau halten können. Zunächst versuchte ich, diese Begabung vor Schwester Theresa geheim zu halten, doch das war einfach nicht möglich. Schon in der nächsten Nacht sprach sie mich darauf an. »Du hast große Fortschritte gemacht.« Sie stand neben mir und ich gab mir Mühe, langsam zu schreiben.
»Da wir beiden die Einzigen sind, die diese Bibliothek betreten, musst du dich vor mir nicht verstellen. Es wird nicht weiter auffallen. Aber …«
Ich sah von meiner Arbeit auf.
»Deine Krankheit hat dir neue Gaben geschenkt, aber diese Fähigkeiten sind nicht menschlich. Ich bitte dich, lass dich nicht aus Stolz hinreißen, sie zu offenbaren. Du würdest dich damit in Gefahr bringen!« Sie sah mich eindringlich an. »Ist dir das klar, Lucienne? Du darfst keine von deinen übermenschlichen Begabungen zeigen. Hier in der Bibliothek bist du mir eine grandiose Hilfe. Ich danke Gott dafür, dass es dich gibt. Du ersetzt mir zehn schreibende Schwestern.«
Ich nickte. Man würde mich verschreien und hinrichten, wenn das Tempo, in dem ich schrieb, bekannt würde. Die Menschen waren abergläubisch, und sie hatten recht. Schließlich gab es Kreaturen wie mich.
Meine Nächte gestalteten sich in gleichmäßiger Langeweile. Schwester Theresa begab sich nach Mitternacht zu Bett, und ich sehnte mich nach Unterhaltung. Es blieb mir überlassen, durchs Kloster zu schlendern oder zu arbeiten. Im Innenhof des Kreuzgangs ließ ich die Nachtluft auf mich wirken und hing meinen Gedanken nach. Sollte ich mein gesamtes Leben nur mit Büchern teilen? Für einen erwachsenen Menschen, der vom Leben und Menschen genug hatte, der die Stille und die Weisheit der Bücher schätzte, mag es ein verlockender Gedanke gewesen sein. Für ein siebzehnjähriges Mädchen war er erschreckend.
Ich betete um eine Veränderung. Selbst das Leben am Hofe des Grafen erschien mir besser. Ich fing an, das Kloster zu hassen. An nichts konnte ich teilhaben. Ich war wirklich tot, auch wenn ich noch in den Hallen wandelte. Wenn mich nicht mein Glauben abgehalten hätte, ich wäre der Versuchung erlegen, mich umzubringen. Ich schrieb und schlief. Lernte Dinge, die mich noch nie interessiert hatten. Ich erfuhr von Gelehrten, die vor Jahrhunderten gelebt hatten, und verstand ihre Gedankengänge. Jedoch würde ich das angeeignete Wissen nicht brauchen, da mich niemand danach fragte.
*
»Das arme Kind.« Pater Comitti hatte gerötete Augen. Ob es am langen Lesen oder an seiner Gemütsfassung lag, war nicht klar.
Arconoskij nickte und sah auf die Uhr. »Ich denke, wir sollten hier aufhören. Sicherlich sind Sie müde.«
»Ich schlafe selten, bevor es hell wird«, sagte Comitti.
»Ich weiß.« Arconoskij blätterte in dem Manuskriptstapel. »Ich glaube aber nicht, dass bei einer Warnung, die seit Jahrhunderten
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