Vatikan - Die Hüter der Reliquie (German Edition)
ich nichts. Mein ganzer Kopf schien nur noch eine einzige Frage zu sein. Ich konnte keine Frage formulieren. Er merkte meine Verwirrung, meine Überforderung.
»Ihr müsst mich verstehen, Apollonia, es blieb mir nichts anderes übrig.«
Ich nickte. Aber warum hatte er mich nicht aus dem Brunnen geholt, warum hatte er Salvador nicht infiziert?
»Salvador hätte es nicht gewollt, glaubt mir. Er wäre in dem Zustand geblieben, in dem er war, als er in den Brunnen geworfen wurde. Er hätte sich sein weiteres Dasein mit diesen Verletzungen herumschlagen müssen. Man bleibt der, der man zum Zeitpunkt der Infizierung ist.«
Argyle hatte recht. Salvador hätte sich mit seinen Verletzungen, seinen Brüchen durch seine weitere Existenz gequält. Er hätte nicht musizieren können, nicht gehen. Dazu verdammt, ein unsterblicher Krüppel zu sein. Keine Liebe auf der Welt hätte dieses Los mildern können.
Ich seufzte. Es hatte keinen Sinn, über Tatsachen nachzudenken, die man nicht ändern konnte. Salvador war tot.
»Warum habt Ihr mich nicht aus dem Brunnen befreit, Euch nicht um mich gekümmert?« Ich sah, dass Argyle vor dieser Frage Angst hatte. Er schloss die Augen und biss sich auf die Unterlippe. »Weil ich Angst hatte, dass Ihr werden könntet wie Eure Mutter.«
Argyle sperrte seine Tür auf und wechselte das Thema.
»Was hat Miguel von Euch gewollt? Ich bin mir sicher, dass es etwas Teuflisches ist. Wofür braucht er Euch?«
»Er will die Weltherrschaft erringen.« Wie hatte ich diesen ungeheuren Gedanken zur Seite schieben können? Ich ließ das Erlebte vor meinem geistigen Auge Revue passieren.
Argyles Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Umso wichtiger, dass er nicht erfährt, dass ich sein Großvater bin. Lisettes Kinder waren nicht die Richtigen, aber das kann er nicht wissen. Nur folgerichtig, dass er jetzt auf Euch zurückgreift.«
»Aber warum hat er das nicht schon früher?«
»Weil es einfacher ist, schwache Menschen in seine Gewalt zu bringen als einen Vampyr. Besonders, wenn der Vampyr stark ist.«
»Ich bin stark?«
»Ihr seid unwissend und das ist mein Fehler, aber Ihr seid sehr stark, da Ihr wenig Blut braucht. Darüber hinaus seid Ihr kein junger Vampyr wie die Gestalten, die er um sich schart.«
Ich schwieg. Das war etwas Neues für mich. Ich war stark. In meiner Eitelkeit gefiel mir der Gedanke.
»Ich weiß nicht, wie Ihr zu dem Plan Eures Sohnes steht …«
Wie ich zu dem Plan stand? Ich würde alles tun, was in meiner Macht stand, um diesen Wahnsinn zu verhindern. Argyle hatte meine Gedanken gelesen und nickte.
»Es ist ein Gräuel, was er anrichtet.«
»Wir müssen etwas tun.« Die Vorstellung, dass dieser Größenwahnsinnige durch meine Infektion zur Macht käme, trieb mich um.
»Als Erstes müssen wir hier verschwinden.«
Zunächst mussten wir Miguels Vertrauen festigen. Ich heuchelte Begeisterung, die ich nicht empfand, und spielte sein Spiel mit. Ich bat Gott, dass er mir meine Lügen verzieh. Miguel richtete eine bombastische Krönungsfeier aus und war voller Tatendrang. Er behandelte mich mit Ehrerbietung, er zog mich zu Entscheidungen hinzu, ich durfte alles auswählen, er überhäufte mich mit Geschenken. Fast schämte ich mich, dass ich ihn so hinterging.
Ich besuchte Lisette, sooft ich konnte. Ich wollte sie nicht zurücklassen, ich wollte sie aus den Klauen der Vampyre befreien. Sie beschimpfte mich und schrie. Ihr Geist verwirrte sich. Mal erkannte sie mich als ihre Schwester. Dann wieder war ihr klar, dass ich es nicht sein konnte. Es war meine Anwesenheit, die sie in den Wahnsinn trieb. Ich hoffte, ihr Vertrauen zu gewinnen. Das Einzige, was ich erreichte, war, dass sie den Freitod suchte. Sie stürzte sich eines Nachts aus dem Fenster.
»Ich wünschte, du wärst wirklich Lucienne«, flüsterte sie. »Dann könnte ich dir sagen, dass ich dir längst verziehen habe.« Sie lächelte mich an und sprang.
Selbst mit Argyle konnte und wollte ich nicht über ihren Tod sprechen. Ich hatte sie mein Leben lang beschützen wollen und war gescheitert. Möge Gott ihr ihre Entscheidung verzeihen. Ich konnte es nicht. Ihr Freitod war das, was ich mir selbst verboten hatte. Meine Gefühle schwankten zwischen Wut und Trauer, Verurteilung und Neid.
Argyle und ich ritten allabendlich aus, jede Nacht ein wenig weiter. Auf diese Art schöpfte keiner der Anwesenden Verdacht, als wir uns endgültig auf den Weg machten. Die Zeit zur Flucht kam, als Miguels Geschäfte ihn nach
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