Vellum: Roman (German Edition)
verleihen, nicht nur das Gewand eines Menschen einzufärben, sondern auch seine Seele.
Metatron kratzt dem Blonden mit dem Fingernagel über die Brust, ein einfacher Strich hier, ein anderer dort – lauter Linien wie bei chinesischer Kalligraphie. Der Engel steht einfach nur da, loyal und treu, auch noch während Metatron seine Seele in Stücke schneidet und neu zusammenfügt. Seine Autorität, sein Urteil wird nicht infrage gestellt. Der Engel würde sich in sein eigenes Flammenschwert stürzen, sollte der Schreiber des Konvents das von ihm verlangen. Während Metatron mit ihm beschäftigt ist, summt der Engel leise vor sich hin, wahrscheinlich ohne es selbst zu merken; er gleicht einem Kind, das sich mit den Händen die Ohren zuhält und singt: La la la, ich kann dich nicht hören. Dann beginnt sein Körper zu zucken.
Einen Moment lang tut er Metatron leid, während er ihn zeichnet. Aber wir alle tragen doch die schwarzen Linien des Schicksals, oder etwa nicht?, denkt er; das liegt im Wesen des Konvents begründet. Und der Engel ist schließlich ein Werber. Wie vielen Leben hat dieser strahlende Jüngling ein Ende gesetzt? Wie viele Morde hat er verübt – oder Schlimmeres? All die verängstigten oder störrischen Unschuldigen wie das Küken oder ihr Bruder, die nicht einsehen wollen, warum sie nicht am Leben bleiben dürfen. Ein Krieg steht bevor, und Metatron kann sich nicht den Luxus erlauben, Mitleid zu empfinden – weder für diese Wesen hier noch für ihre Opfer. Der Zweck heiligt die Mittel, redet er sich ein ... nur allzu oft in letzter Zeit.
Als würde eine Platine mit Elektroden bestückt, denkt Metatron. Das Mal des Engels ist ein filigranes Netzwerk aus Verbindungen, die er mit dem leichten Kratzen eines Fingernagels trennt und wieder zusammenführt, die sich – scheinbar zufällig – überkreuzen. Nur ein Fehler, und der Junge verwandelt sich in einen faselnden Idioten oder in einen Automaten, wie man sie in Nervenkliniken oft antrifft, wo sie zwanghaft eine Tür ansteuern, nur um sich wieder umzudrehen und zurückzustolpern, immer und immer wieder, von der Ahnung getrieben, dass es einen Ausgang geben muss, aber nicht mehr in der Lage, die Tür als etwas anderes als einen Eingang wahrzunehmen.
»Wie hast du geheißen?«, fragt er. »Bevor du dich hast verpflichten lassen, meine ich.«
»Jack, Sir. Jack Carter.«
Er redet langsam, seine Stimme zittert. Angst ist für ihn sicher eine ungewohnte Erfahrung. Metatron blickt zu dem anderen hinüber. Der ist still, stumm wie das Vakuum.
»Und du?«
»Pechorin ... Joseph Pechorin. Sir.«
»Ich habe einen Auftrag für euch.«
Tiefstes Purpur
»Kommt«, sprach Enki zu dem Kurgarra und der Galaturra. »Wendet euch den Toren von Kur zu. Geht in die Unterwelt. Die sieben Tore werden sich für euch öffnen, und wie die Fliegen werdet ihr durch die Tür hineinschlüpfen.
»College Street, Asheville«, sagt Metatron. »Dort habt ihr den Jungen aus den Augen verloren, nicht wahr? Nun, dieses Mal wisst ihr ganz genau, wohin ihr gehen müsst. Das Mädchen hat die Tür offen gelassen.«
Er macht sich jetzt an dem Dunkelhaarigen zu schaffen, während er beiden Instruktionen gibt. Der erste Teil sollte keine Schwierigkeiten bereiten, nicht einmal Idioten wie ihnen. Der Junge ist entwischt, aber Phreedom hat eine Fährte hinterlassen, die so heiß und übelriechend ist wie brennender Gummi. Sie muss das von langer Hand geplant haben. Erst machte sie diejenigen ausfindig, die ihrem Bruder zur Flucht verholfen haben, um sie dann zu verraten und die eigene Haut zu retten. Uneingeschränkte Immunität für sie und ihren Bruder. Das war das Geschäft, dass der Beantworter ihm angeboten hat, dieses Alter Ego von Phreedom – mehr Phreedom als Phreedom selbst, nach allem, was sich das kleine Küken von Eresch hat antun lassen. Er musste den Avatar in seine Einzelteile zerlegen, um an Phreedoms Prägung heranzukommen, aber jetzt hat er sie, er hat die kleine Messenger am Schlafittchen, dieser Rest Code ist alles, was von ihr übrig ist. Er könnte ihn einfach löschen, als wische er Kreide von einer Tafel, und dann wäre nichts weiter von ihr übrig als ein Stück Fleisch in einem Tattoosalon in Asheville. Aber es gibt etwas sehr Kostbares, das er sich damit erkaufen kann.
Eresch, denkt Metatron.
»Dort werdet ihr sie finden«, sprach Enki, »die Herrin der Unterwelt, Eresch von der großen Erde, jammernd und schreiend, wie eine
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