Vellum: Roman (German Edition)
ihre Prägung abzuändern, eine tote Identität anzunehmen, um den Werbern zu entgehen, sich aus dem Buch des Lebens hinauszuschreiben und in das Vellum zu entkommen. Planmäßig läuft das nie. Hat das kleine Küken also eine vergessene Kopie von Inannas Mal in die Finger bekommen und über ihr eigenes prägen lassen, um eine Geschichte mit der anderen zu verschmelzen! Wahrscheinlich hat ihr Bruder dasselbe getan; deshalb bekommt das Buch sie auch nicht ins Blickfeld, bekommt ihr Schicksal nicht über Querverweise zu fassen, um herauszufinden, wo und wann sie sich nicht weit von hier treffen werden, wie es ihnen vorbestimmt ist. Als teilte man etwas durch Null – was immer eine unlösbare Gleichung zur Folge hat.
Aber anscheinend bereut das Mädchen jetzt ihren Fehler; tot zu sein ist eben kein gar so tolles Leben.
»Wo steckt sie denn jetzt?«, fragt er. »Kur haben wir vor dreitausend Jahren abgefackelt. Der letzte Zugang zum Vellum wurde kurz darauf geschlossen.«
»Die Zeit im Vellum birgt so manches Rätsel, weißt du«, sagt die Kopie. »Die Ewigkeit kümmert sich nicht weiter um Uhren und Kalender.«
»Wo ist sie?«
»Alles zu seiner Zeit«, sagt sie. »Ich möchte dir ein Geschäft vorschlagen.«
»Mit Kriminellen macht der Konvent keine Geschäfte.«
»Davon muss der Konvent nichts erfahren.«
Eine furchtbare Unschuld
In der Weisheit seines Herzens schuf Enki aus dem Dreck unter seinen Fingernägeln einen Kurgarra, einen hübschen Jüngling, ein kluges junges Bürschchen, ›Glanz‹ mit Namen. In der Weisheit seines Herzens schuf Enki aus dem Dreck unter seinen Fingernägeln eine Galaturra, ein hübsches Weibsbild, ein kluges junges Ding, ›Glanz‹ mit Namen.
Metatron klappt den Palmtop zu, betrachtet sich einen Moment lang im Garderobenspiegel, fragt sich, ob er das Richtige tut, und dreht sich dann um.
Die beiden Engel stehen da wie Fußsoldaten, was sie auch sind: Hände hinter dem Rücken, die Beine leicht gespreizt, die Augen geradeaus. Die Aufforderung ›Rühren!‹ wäre nie absurder gewesen, das findet jedenfalls Metatron. Sie sind beide jung und gutaussehend, und in ihren schwarzen Anzügen und mit dem gekämmten Haar – weizenblond und rabenschwarz – sehen sie eher aus wie Wanderprediger als wie Jäger, Mörder, Vergewaltiger. Ihr leerer Blick gleicht dem aller Idealisten, nur ein schwacher Glanz kalter Leidenschaft schimmert in ihren Augen, der flackernde Funke einer höheren Wahrheit, die sie in weiter Ferne sehen, den Widerschein der himmlischen Herrlichkeit. Cherubim. Putten. Carter und Pechorin. Das Blau ihrer Augen ist das Einzige, was sie gemeinsam haben; in Carters Augen spiegelt sich jedoch das Blau des Wüstenhimmels wider, der warme Ozean vor einem Strand; während Pechorins Augen an eine antiseptische Mundspülung erinnern, an Neonlampen bei Nacht. Ihre Ähnlichkeit ist es, die ihre Unterschiedlichkeit ausmacht.
Denn in ihrer beider Augen liegt eine furchtbare Unschuld, eine unerträgliche Klarheit des Blickes. Deshalb hat er sie angewiesen, Sonnenbrillen zu tragen.
Dem Kurgarra gab er die Speise des Lebens. Der Galaturra gab er das Wasser des Lebens.
Metatron greift in eine Hosentasche und zieht zwei kleine Gefäße mit einer dunklen Flüssigkeit hervor. Sie sieht aus wie Tinte, wie Öl, wirbelt in dem Glas empor wie lebendige Tinte, lebendiges Öl. Die Wunder der modernen Technologie, denkt er. Nanotech ist so viel schneller als die gewissenhaften Methoden, die früher angewandt wurden, um einem Unkin einen neuen Namen zu geben, ihn an den Konvent zu binden. Er stellt die beiden Gefäße auf die Kommode, zieht ein drittes hervor, schraubt den Deckel auf – an Bitläusen, wie er sie nennt, hat er immer einen ausreichenden Vorrat dabei – und taucht einen Fingernagel in das tiefe Schwarz. Er muss daran denken, wie er seinen neuen Namen erhalten hat, damals, als ihnen nur der dunkelrote Farbstoff zur Verfügung stand, der von der levantinischen Küste stammte – die Farbe der Gewänder der römischen Kaiser, das Scharlach und Purpur der Huren von Babylon. Die Farbherstellung war so unlöslich mit den Küstenstädten verbunden, mit Sidon, Tyros und Byblos, dass die ganze Gegend nach der Farbe benannt wurde: po-ni-ki-jo auf Mykenisch, kinnahu für die Einheimischen, Phönizien oder Kanaan. Damals mussten sie den Farbstoff mit dem Blut der Unkin mischen, in einer Zeremonie, die neun Tage dauerte, um ihn zu ... weihen. Um ihm die Macht zu
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