Vellum: Roman (German Edition)
Verständnis.«
»Bittet nur um den Leichnam Inannas. Zerquetscht die Speise des Lebens über ihm. Spritzt die Wasser des Lebens darüber. Und Inanna wird auferstehen.«
»Und wenn sie ihn euch gibt ...«
Metatron nimmt die Gefäße von der Kommode und reicht sie den Engeln, eines mit jeder Hand, wie ein Vater aus grauer Vorzeit, der seinen Söhnen die Schwerter reicht.
»Dann werdet ihr diese benutzen.«
Der Thronsaal der Herrin der Hölle
Der Kurgarra und die Galaturra hörten Enkis Worte und machten sich auf den Weg in die Unterwelt. Die sieben Tore öffneten sich ihnen, und wie die Fliegen schlüpften sie durch die Ritzen und gelangten in den Thronsaal der Herrin der Unterwelt — Eresch von der großen Erde. Sie trafen sie jammernd und schreiend an, wie eine Frau, wenn sie gebärt. Kein Leinenschleier war um ihren Körper gewickelt. Ihre beiden Brüste waren bloß; sie war nackt — nackt, bis auf ihr dunkles Haar, das sich wie Schilf um ihren Kopf wand: Eresch, die Herrin der Stadt der Toten.
Die Silhouetten der beiden gefallenen Engel sind im Eingang deutlich sichtbar, der Perlenvorhang von der linken Hand des einen geteilt, von der rechten Hand des anderen – die Hände Gottes, des Schicksals, des Verhängnisses. Sie stehen in genau der gleichen Haltung da, wie zwei Hälften eines Wesens, und in gewisser Hinsicht sind sie das auch. Den Dienern des Konvents wird nur eingeschränkte Selbstständigkeit zugebilligt. Frage jeden beliebigen katholischen Priester, und er wird dir erklären, dass sie nur dem Willen ihres Herrn dienen. Deshalb werden sie schließlich auch Engel genannt, aus dem Griechischen, angelus .. . ›Bote‹ – messenger . Anna, Inanna, Phreedom Messenger erkennt sie, obwohl sie ihr Gesicht nicht sehen kann; sie spürt, wie ihr der Hass kalt den Rücken hinunterläuft. Sie hatte ihren Plan nicht vergessen, aber jetzt ist sie sich nicht mehr so sicher, wen sie verraten soll, Eresch oder Enki. Am liebsten würde sie alle zur Strecke bringen, ihnen alles heimzahlen.
Eresch sieht die beiden einen Moment lang an, dann lächelt sie und winkt sie herein.
Die Eingangstür des Tattoosalons fällt ganz langsam ins Schloss; sie streift die Glocke und schmiegt sich in den Türrahmen, ohne ganz zu schließen.
Kling.
»Ach, mein Inneres«, jammerte Eresch von der großen Erde, und sie jammerten mit ihr, »ach, Euer Inneres.« »Ach, mein Äußeres«, jammerte Eresch, und sie jammerten mit ihr, »ach, Euer Äußeres.« »Ach, mein Bauch«, stöhnte Eresch, und sie jammerten mit ihr, »ach, Euer Bauch.« »Ach, mein Rücken«, stöhnte sie, und »ach, Euer Rücken«, stöhnten sie mit ihr. »Ach, mein Herz«, seufzte sie, und »ach, Euer Herz«, seufzten sie mit ihr. »Ach, meine Leber«, seufzte Eresch, und »ach, Eure Leber«, seufzten Enkis Geschöpfe, der Kurgarra und die Galaturra.
Der Blonde redet irres Zeug; er tobt wie ein Wahnsinniger, schleicht durch den Salon, als suche er etwas, überall, in den Tintenflaschen oder in den Mustern an der Wand. Er fährt herum und beschimpft Eresch. In seinen Augen lodert ein Feuer, er spricht mit flammenden Worten, dieser brennende Bursche, als er der Herrin der Toten von sämtlichen Gräueltaten und Grausamkeiten erzählt, die er im Namen des Konvents begangen hat, von jeder Seele, die er ausgelöscht, von jedem zitternden Kleinkind der Unkin, dessen Schädel er eingeschlagen hat und dessen Blut er niemals von seinen Händen wird waschen können. Manchmal redet er unzusammenhängend, spuckt unvollständige Sätze aus, wenn er versucht, etwas Ausdruck zu verleihen, das zu schmerzlich ist, um in Worte gefasst zu werden. Er fährt sich mit den Fingern durchs Haar, bis es so wirr ist wie seine Sätze, reibt sich mit den Handflächen die Schläfen, als befinde sich etwas in seinem Kopf, das nicht hinausgelangen kann. Und Anna begreift, dass es Trauer ist. Der andere steht nur da, den Kopf gesenkt, die Augen im Schatten. Ihn hat nicht Bedauern hierher geführt, das ist offensichtlich. Mag er auch den Kopf gesenkt halten, das dunkle Haar wie eine Kapuze über dem Kopf – sie weiß trotzdem, dass er das Gesicht eines Sadisten verbirgt.
»Ich bin einfach – ich fühle mich so verdammt – alles ist –«
Der Engel hält inne, verstummt.
»Verloren«, sagt er.
Eresch nimmt das widerspruchslos hin, sie suhlt sich geradezu in der Trauer des gefallenen Engels, die sich tosend über sie ergießt und die so sehr ihren eigenen Gefühlen
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