Vellum: Roman (German Edition)
Enkis Pläne gesehen, hatte ihn so betrunken gemacht, dass er offen darüber redete. Keine Gottkönige mehr. Keine Götzenbilder mehr. Keine Reiche mehr. Und sie wusste, dass er, wollte er seinen Plan verwirklichen, die Stadt der Toten in eine Hölle verwandeln musste, in einen Schmelzofen der Seelen all jener alten Götter, die sich gegen ihn stellen mochten. Sie konnte es im Fluss der Kräfte hören, zu dem alle Unkin Zugriff hatten, konnte es körperlich spüren, als die Kräfte sich neu ausrichteten, wie eine gewaltige und uralte Macht, die sich tief unter ihren Füßen regte – dicke Muskelstränge, die sich unter der Haut bewegten. Dieses Mitempfinden unterschied sie und die anderen von der gewöhnlichen Menschheit – sie konnte sehen, wie die Zukunft Gestalt annahm. Und nicht alles gefiel dieser kleinen Herrin des Himmels, dieser Priesterin der Erde.
Also hatte sie sich nach Kur begeben, in der Annahme, Eresch würde die Sache ebenso sehen. Zumindest wollte sie als Erste dort eintreffen, bevor die Engel mit ihren Flammenschwertern dort einfielen, mit ihrer Sprache wie Blitze, die aus ihren Mündern zuckten, mit Worten, welche die Unterwelt zerstören und das dunkle Haus in ein loderndes Inferno verwandeln würden.
Aber Eresch hatte ihre eigenen Pläne.
Das Letzte, woran sie sich als Inanna erinnern kann, sind die Anunnaki, die über sie herfallen, ihr die Krallen in den Leib schlagen, die Finger um ihr Herz schließen, und Eresch, die vor dem Thron steht, die Hand ausgestreckt, mit dem Finger auf sie deutet und das Wort ausspricht, das sie tötete.
»Warum?«, fragt sie. »Wir hätten sie aufhalten können. Wir hätten den verdammten Himmelsstier zum Leben erwecken können, sämtliche gehörnten Götter und Schlangenseelen, die sie umgebracht haben, weil sie nicht vor einem leeren Thron knien wollten. Wir hätten –«
»Und das werde ich«, sagt Iris. »Vertrau mir, kleine Schwester. Ich werde nicht zulassen, dass ihr kindischer Verein das Vellum in das ... Spielzeuggefängnis« – sie spuckt die Laute mit grenzenloser Verachtung aus – »verwandelt, nach dem sie sich so sehr sehnen.«
Iris durchquert den Laden und legt die Hand auf das Buch, und Anna blickt durch den Perlenvorhang zur Glastür des Tattoosalons hinüber und zur lichterfüllten Welt dahinter. Von der Tür trennt sie nichts außer dem, was sie geworden ist. Sie kann nicht fort.
»Du musst mich verstehen, kleine Schwester«, sagt Iris. »Sie haben ihren Konvent, aber wir haben den unseren. Sie denken, ihre Feinde seien alle nur ... Anarchisten. Ungebändigte, unbeherrschte Libertins, die zu ungestüm sind, um zusammenzuarbeiten. Sie sehen tausend Splittergruppen, die einander genauso hassen, wie sie den Konvent verachten, und sie glauben, es mit denselben alten marodierenden Göttern zu tun zu haben, die auf persönliche Macht aus sind, verbittert über ihre verlorene Herrlichkeit. Was willst du denn, Anna? Inanna? Phreedom?«
Die Namen stechen Anna wie Nadeln in die Haut. Warum ist sie hierhergekommen? Was will sie eigentlich, was hoffte sie hier zu finden? Ein Teil von ihr ist Inanna – die ehrgeizige, kühne Inanna, der es um Macht zu tun ist, die die Männer in ihrem eigenen Spiel schlagen möchte. Ein Teil von ihr ist Phreedom – die grimmige, entschlossene Phreedom, die wie ihr Bruder über den Tod hinaus fliehen möchte, in das Vellum, und die das Spiel selbst schlagen möchte. Aber diese beiden Inkarnationen ihres Selbst sind nackt, während des Durchgangs in das Vellum ihrer Hülle beraubt, und zurück ist das tiefere, reinere Verlangen darunter geblieben, das kalte Verlangen der Toten.
Und auf diesen Teil übt Iris ihren Reiz aus.
»Weißt du noch, was du zu mir gesagt hast? Ich werde diese Tore niederreißen und die Toten auferstehen lassen, auf dass sie die Lebenden verschlingen, bis mehr tote Seelen auf Erden wandeln als lebende. «
Ist sie auf Gerechtigkeit aus oder nur auf Rache? Sie ist sich dessen nicht sicher. Aber schließlich weiß sie, dass sie jetzt Iris gehört, mit Leib und Herz und Seele, sie ist ein Geschöpf der Erde, von der Hand des Todes geformt.
Doch noch während Anna den letzten Rest des schwarzroten Staubes aus Blut und Tinte von der Inanna-Tätowierung wischt, die ihr in den Leib gemeißelt ist, weiß sie, dass es irgendwo dort draußen in der Welt einen kleinen Teil von ihr gibt, der für immer Phreedom sein wird.
Der Geist in der Maschine
»O silberhell
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