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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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das dunkelrote Haar aus der Stirn. Obwohl sie sich noch mehr Wasser ins Gesicht spritzt, fühlt sie sich noch immer wie ein Zombie. Verdammte Zombie-Retro-Biker-Mieze, denkt sie. Perlen im Haar, einen engen Perlenreif um den Hals, eine Halskette mit Talismanen aus Hühnerknochen auf einem goldenen, mit Kreisen verzierten T-Shirt. Scheiße, sie sieht aus wie ihre verdammte Techno-Hippie-Mutter.
    Sie greift nach ihrer Uhr und schiebt sie sich übers Handgelenk, spult die Knopfhörer aus dem Stick an ihrem Gürtel, setzt sie auf und klippt sie in die Verstärkeranschlüsse in ihren Ohrringen, damit ihre Linsen die Bildsignale empfangen können. Das Sony VR5 -Logo flimmert kurz über ihr Gesichtsfeld, während sie mit der Schulter die Tür aufstößt und auf den Datenstick tippt, um das Bildsignal auszublenden. Eine Wettervorhersage mit Geisterbildern von Wolken oder plötzlichem Sonnenschein auf ihrem Linsendisplay kann sie jetzt nicht gebrauchen und auch keinen Wegweiseravatar, der an jeder Abzweigung in diese oder jene Richtung zeigt. Nicht heute.
    Sie schnappt sich ihren Helm von der Lenkstange des Motorrads und setzt ihn auf, während sie ein Bein über den Sitz schwingt, den Ständer hochknallt, den Reißverschluss ihrer Lederjacke schließt und den Motor mit einem Tritt aufheulen lässt.
    Die uralte Kreatur aus Stahl und Chrom knurrt zwischen ihren Beinen und eine andere uralte Kreatur – eine aus Leder und Vinyl – schreit in ihre Ohren.
    »Loooooooooooooord!«, brüllt Iggy Pop, und die mörderische Gitarre aus ›TV Eye‹ von den Stooges legt los, als Phreedom Messenger den Gashebel des Motorrads aufdreht und aus ihrem Boxenstop donnert  – auf dem Weg in die Hölle.
     
     
    Hure Babylons, Herrin des Himmels
    Und Inanna setzte ihren Gang zur Unterwelt fort. Ihre Reise führte sie aus dem uralten Sumer die Lande zwischen Euphrat und Tigris hinauf, durch ganz Babylon und in das hethitische Harran. Mit den Habiru, die sie Ischtar nannten, wanderte sie nach Kanaan. Sie begleitete sie nach Ägypten und sie nannten sie Aschtarot, als sie zurückkehrte — zu einer Erinnerung, den Mythos der Isis. Sie sah den Aufstieg und Fall von Gottkönigen und Stadtstaaten, sie sah Söhne Patriarchen ermorden und ihren Platz ein- und ihre Namen annehmen, sie sah Armeen und Kriege um Land und Herrschaft. Sie begleitete diese Armeen, mit den Huren und den Musikanten und Eunuchenpriestern, spendete Trost in ihren Zelten, in Gotteshäusern der Hurerei und des Heils. Sie gebar Königen Bastarde. Sie wusch Göttern die Füße, als sie unter den Menschen wandelten.
     
    Sie sah, wie Dörfer niedergebrannt und Statuen zerstört wurden. Sie sah, wie aus Königreichen Staatenbünde wurden, aus Staatenbünden Reiche. Sie sah, wie ganze Dynastien von Göttern gestürzt wurden, ihre Namen und Gesichter von den Monumenten getilgt, die sie errichtet hatten, und so nahm sie — anders als diese — neue Namen, neue Gesichter an. Die Zeiten änderten sich und sie änderte sich mit ihnen. Die neue Ordnung, die alles Alte um sie herum niederriss, ließ sie nie gelten, aber sie hütete sich, gegen sie aufzubegehren. Sie sah zu, wie andere ihrer Ehre beraubt wurden, ihres Ansehens, ihrer Göttlichkeit und sich noch immer Herrscher nannten, sogar noch, als der neue Bund jedes Götzenbild in ihren Tempeln zerschmetterte. So setzte sie ihre Reise als Bittstellerin fort, als Flüchtling, unter dem Schutz eines Geheimnisses anstelle von Macht, von Kulten anstelle von Armeen. Sie sah, wie die Samen, die sie hinter sich gesät hatte, in der Erde Wurzeln schlugen und wuchsen, nur um von Soldatenstiefeln wieder zertreten zu werden. Unter ihren Begleitern fanden sich Sklaven und Verbrecher.
    Von Israel ging sie nach Byzanz und Rom, diese Herrin des Himmels, Heilige Mutter voll der Gnaden, und ihr neuer Name und ihre alten Titel hallten von den Gewölben der steinernen Kathedralen wider — Räume so gewaltig und leer wie die seit langem verlassenen Tempel in Uruk und Badtibira, Zabalam und Nippur, Kisch und Akkad.
     
    Sie reiste in Statuen und Pietas, in Indigo und Gold auf alte Renaissancefresken und russische Ikonen gemalt; sie reiste mit Konquistadoren und Missionaren in die Neue Welt, zu Plantagen, wo die Sklaven nachts um ein Feuer tanzten, von Göttern besessen, von Heiligen, von Loa und Orisha; reiste durch die Zeit in ein neues Zeitalter der Karnevalsmythen und -legenden und Sternenkulte, in Hochglanzschriftstücken verehrt, die an

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