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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Zeitungskiosken verkauft wurden, in ein Zeitalter der Rosenkränze und Tarotkarten und telegenen Erdmütter, die sich um die gebrochenen Herzen und den verletzten Stolz von verwöhnten, verweichlichten ewigen Kindern kümmerten.
     
    Sie begab sich auf die Straße ohne Wiederkehr, in das düstere Haus des Todesgottes — das Haus, das niemand mehr verlässt, der es einmal betreten hat, das allen das Licht raubt und sie statt mit Brot mit Staub und Lehm abspeist. Nie sehen sie die Sonne; sie leben nachts, in das schwarze Gefieder der Aaskrähe gekleidet. Staub legt sich auf die Tür und den Riegel des düsteren Hauses, Moos und Schimmel überziehen alles.
    Hier nun hielt sie inne, diese Hure von Babylon, diese Herrin des Himmels, vor den Toren der Unterwelt, und wandte sich ihrer Dienerin zu, die ihr durch die Jahrhunderte und Jahrtausende gefolgt war.
    »Geh, Ninschubur«, sagte sie. »Und vergiss nicht, was ich dir gesagt habe.«
    »Meine Herrin«, sagte Ninschubur.
    »Geh.«
    Eine Skulptur aus Zeit und Raum
     
    Sie schaltet in einen niedrigeren Gang, ein gedämpfteres Knurren, legt sich flach und tief in die Kurven, immer langsamer, während das Motorrad die steile, gewundene Straße in die Berge erklimmt. An der Straße stehen weiße Holzkirchen mit auf Bretterzäunen aufgemalten Bibelsprüchen und schäbige Fertighäuser ducken sich auf ihren kleinen Grundstücken. Auf den schiefen Veranden baumeln Töpfe mit welken Blumen in Hängekörben. Sie schmiegen sich unter die tiefen Rotwild- und Bärenwälder; dies ist Jagdgebiet, ein Ort für Kleinlieferwagen und Männer in kugelsicheren Westen, mit großkalibrigen Büchsen und Kühltruhen voller Bier. An jedem Haus das Sternenbanner. Auf einer unbefestigten Straße zu ihrer Rechten steht eine Rostlaube von einem Auto auf Ziegelsteinen aufgebockt, den Schriftzug ›#1 Dawg‹ seitlich auf die verbeulte Karosserie gemalt.
     
    Das Motorrad legt sich in weiten Bögen nach links und rechts in die engen Kurven, und sie legt sich mit hinein, folgt dem Fluss, dem Rhythmus des ständigen Hin und Her. Die Straße schlängelt sich geradewegs in die Berge hinauf, und sie schlängelt sich mit ihr, wie eine Kobra mit aufgerichtetem Kopf, bereit, zuzustoßen; ihr Kopf schwingt hin und her, vom Rhythmus bezwungen, sie schaltet von Knurren auf Brüllen und wieder zurück. Langsam und weit. Schnell und eng. Links. Rechts. Links. Rechts. Blendend helles Sonnenlicht flimmert durch den Baldachin der Bäume wie das Ende eines alten Zelluloidfilms, der durch den Projektor rattert.
     
    Für eine Sekunde führt die Straße tief in die scharf geschnittenen Schatten der hohen Bäume hinein, gibt Ausblicke zwischen dunklen, moosglatten Felsvorsprüngen frei, und dann durch eine Betonunterführung; sie nimmt die geschwungene Ausfahrt, die nach rechts abzweigt, einen großen Bogen schlägt, und dann ist sie oben, auf dem weitläufigen Blue Ridge Parkway, der breiten Allee, die auf der ganzen Länge des Gebirgszugs von Gebirgsgrat zu Gebirgsgrat klimmt. Die Sonne ist heiß, aber die Luft ist klar und frisch wie das Wasser einer kühlen Quelle, und sie hat freie Sicht nach links und rechts, sieht die Welt auf beiden Seiten, die Berge dahinter, die Täler dazwischen, die gewaltige, grüne, zarte Skulptur aus Zeit und Raum, aus Himmel und Erde.
     
    An Orten wie diesem lässt sich nicht sagen, wo die Welt endet und das Vellum anfängt, denkt sie. Trotz des harten Asphalts, trotz der hölzernen Meilenschilder entlang der Straße, trotz des Ausblicks auf Täler, in denen sich die Häuser und Kirchen, Schulen und Fabriken der kleinen Ortschaften in die Bodenfalten schmiegen, ist die Wirklichkeit von hier aus gesehen dünner – wie die Luft. Die Straße ist nur ein Kratzer auf der Haut eines Gottes; Phreedom stellt sich vor, wie sie von ihr abkommt, durch einen der niedrigen Holzzäune kracht, ins Leere hinausschießt, direkt aus dieser Welt hinaus- und in eine andere hineinstürzt, in eine Welt, in der es kein menschliches Leben gibt oder die von den Geistern der Tiere bewohnt wird.
    Aber das waren nicht die Welten, nach denen sie suchte, bei weitem nicht.
     
     
    Inanna vor den Toren der Hölle
    »Torhüter, öffne mir dein Tor«, rief Inanna. »Wenn du dich weigerst, schlage ich es ein, zerschmettere den Riegel, spalte den Pfosten. Ich werde diese Tore niederreißen und die Toten auferstehen lassen, auf dass sie die Lebenden verschlingen, bis mehr tote Seelen auf Erden wandeln als

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