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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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lebende.«
    Inanna stand vor den äußeren Toren von Kur, und sie klopfte mit aller Kraft.
    »Öffne mir, Hüter der Tore«, rief sie mit wütender Stimme. »Öffne mir, Neti! Ich komme allein und bitte um Einlass.«
    »Und wer bist du?«, fragte Neti, der mürrische oberste Torhüter von Kur.
    »Ich bin Inanna, die Herrin des Himmels, auf dem Weg zum Ort des Sonnenaufgangs.«
    »Wenn du wirklich die Herrin des Himmels bist«, sagte Neti, »auf dem Weg zum Ort des Sonnenaufgangs, Inanna, warum treibt dich dein Sinn auf den Weg, von dem keiner, der ihn geht, zurückkehrt?«
    »Meine Schwester, Ereschkigal von der Großen Erde«, antwortete Inanna. »Ich möchte an den Trauerfeiern für Gugalanna teilnehmen — dem Himmelsstier, ihrem toten Gemahl. Ich möchte an den Feiern teilnehmen — lass das Bier für das Trankopfer in den Becher gießen. Nun öffne mir.«
    »Warte hier, Inanna, ich werde deine Botschaft meiner Herrin überbringen.«
    Und Neti, oberster Torhüter von Kur, wandte sich um und betrat den Palast von Ereschkigal, Herrin der Unterwelt und der Großen Erde.
    Mary oder Anna, Esther oder Diana – Phreedom blättert rasch durch die vielen Ausweise, die sie in ihrer Brieftasche bei sich trägt, all die Identitäten, hinter denen sie sich verbirgt. Fast willkürlich zieht sie einen heraus – eine Anna dieses Mal – und reicht ihn dem Portier hinter dem Tresen. Er lächelt ihr zu und sie muss an die billigen Motels denken, in denen sie übernachtet hat und in denen die Portiers nur Simavatare waren, elektronische Geister mit gerade mal ausreichender KI im Rücken, um mit der An- und Abmeldung klarzukommen. Im Vergleich zu den früheren Dienstleistungslohnsklaven sind Simdiener inzwischen die billigere Lösung; sie ist irgendwie überrascht, dass sich dieses Hotel einen Empfangschef aus Fleisch und Blut leistet. Aber vielleicht sind sie hier einfach noch etwas rückständig.
    Eine neue Stadt, ein neues Comfort Inn, denkt sie. Dieses Mal in Marion, aber es könnte überall sein. Sie sieht dem Portier dabei zu, wie er die Karte durch die Maschine zieht, sich dem Bildschirm zuwendet und auf die Bestätigung wartet. Und sie hält inne, die Hand mit dem Stift über dem Gästebuch, blickt zur Uhr auf der rückwärtigen Wand hoch und sieht, wie der Sekundenzeiger eine Runde tickt, noch eine – und dann stehen bleibt. Der Portier schaut noch immer auf den Schirm, eine Hand auf dem Monitor, seine trommelnden Finger sind zwischen den Taktschlägen erstarrt. Sie blättert in dem Buch zurück und sucht die Liste nach dem einen Namen ab, der aus dem Rahmen fällt. Sie hat keine Ahnung, welchen er hier verwendet haben könnte, aber sie weiß, dass sie ihn erkennen wird, wenn sie ihn sieht, an winzigen Anzeichen – nicht an der Handschrift, nicht am Schlängeln des s oder den Rundungen des m , sondern an dem Abdruck, den er nicht auf dem Papier, sondern auf der Wirklichkeit hinterlässt. Unkin können jeden beliebigen Namen annehmen, jede Gestalt, aber ihre Einstellung – ihre Taten – verraten trotzdem ihr wahres Wesen. Sie hinterlassen Spuren.
    Wie sich herausstellt, hat er sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen falschen Namen zu verwenden.
    Thomas Messenger.
    In schwarzer Tinte auf weißem Papier. Sie aber sieht ein leuchtendes Weiß mit einer schwarzen Aura, wie ein Nachbild. Also war ihr Bruder tatsächlich hier.
    Sie lässt den Sekundenzeiger der Uhr weiterticken, der Portier richtet sich auf und wendet sich wieder ihr zu.
    »Herrin«, sagt Neti, »vor den Toren des Palastes steht ein Mädchen so fest wie das Fundament einer Stadtmauer, so groß wie der Himmel und so weit wie die ganze Erde. Sie kommt gut vorbereitet, hält die sieben Me in Händen. Ihre Augen sind geschwärzt und sie hat Stab und Seil dabei. Feine, dunkle Locken fallen ihr in die Stirn. Um den Hals trägt sie winzige Lapislazuliperlen, eine doppelt geschlungene Perlenschnur fällt ihr in den Ausschnitt bis auf die Brust. Ihr goldenes Brustgehänge ruft den Männern leise zu: Kommt, kommt zu mir. Auf dem Haupt trägt sie die Sugurra, die Krone der Steppe, und am Handgelenk einen goldenen Armreif. Meine Herrin, sie trägt das herrschaftliche Gewand.«
    Und Phreedom zieht die Schlüsselkarte durch das Schloss und öffnet die Tür des Zimmers, das allen anderen Zimmern in diesem Comfort Inn gleicht, den Zimmern jedes anderen Comfort Inn, jedes billigen Hotels in jedem Staat, in dem sie bisher war. Sie knallt den Helm auf die Holzkommode,

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