Vellum: Roman (German Edition)
während die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, und hängt die Jacke über eine Stuhllehne. Sie zieht sich das Halsband über den Kopf, hakt den Halsreif auf, streift die Uhr vom Handgelenk, löst den Datenstick von der Hüfte und legt alles auf das dunkle Holzfurnier. Sie streift das T-Shirt ab und lässt es auf das Bett fallen, auf die dünne grüne Steppdecke mit den knallbunten Blumen, wendet sich dem Badezimmer zu und –
Das Wasser aus dem Duschkopf rieselt ihr über die Hand, ein heißes Prasseln und tröpfelnde Fährten zwischen ihren Fingern. Ihre Bluejeans liegen zusammengeknüllt auf dem Boden, aber Phreedom kann sich nicht daran erinnern, sie ausgezogen zu haben. Scheiße, denkt sie. Noch ein Schnitt. Noch eine Falte in der Zeit, ein Einschnitt im Vellum. Sie steht hier auf der Schwelle.
Sie tritt unter die Dusche.
Gebrochene Minuten und gekrümmte Stunden
»Sie ist hier, deine Schwester Inanna, und sie trägt die große Peitsche bei sich, das keppu-Spielzeug, um den Abzu vor Enkis Augen aufzuwühlen.«
Als Ereschkigal, Herrin der Großen Erde, das hörte, schlug sie sich auf die Schenkel und biss sich auf die Unterlippe. Als Ereschkigal, Herrin der Großen Erde, das hörte, wurde sie wütend.
»Was habe ich getan, sie zu erzürnen? Ich esse und trinke mit den Anunnaki, Lehm ist mein Brot und abgestandenes Wasser mein Bier. Was führt sie hierher? Ich weine um die jungen Männer und um die Liebsten, die sie wider ihren Willen verließen. Ich weine um die Mädchen, die vom Schoß ihrer Geliebten gerissen wurden. Ich weine um die Kinder, die vor ihrer Zeit geboren wurden und sterben, bevor sie gelebt haben.«
Ihr Gesicht wurde so rot wie eine geschnittene Tamariske, ihre Lippen so violett wie der Rand einer kuninu-Schale. Sie bewegte die Gedanken in ihrem Herzen und grübelte darüber nach. Schließlich sprach sie:
»Komm, Neti, mein oberster Torhüter der Pforten von Kur, hör gut zu, was ich zu sagen habe: Schließe und verriegle die sieben Tore von Kur, und dann öffne sie eins um das andere und lass Inanna durch je eines eintreten. Führe sie hier herunter. Aber auf ihrem Weg nimmst du ihr das herrschaftliche Gewand ab, nimm die Krone, den Halsreif und die Perlen, die ihr über die Brüste fallen, das goldene Brustgehänge, das sie trägt, das Armband und Stab und Seil. Nimm ihr alles ab, auch das herrschaftliche Gewand, und lass die Heilige Priesterin der Erde, die Herrin des Himmels, mit demütig gesenktem Haupt eintreten.«
Neti lauschte den Worten seiner Herrin, schloss und verriegelte alle sieben Tore von Kur, der Stadt der Toten. Dann öffnete er das äußerste Tor.
»Komm, Inanna, tritt ein«, sagte Neti zu ihr, und als Inanna durch das erste Tor trat, wurde ihr die Sugurra, die Krone der Steppe, abgenommen.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Inanna.
»Schweig, Inanna«, erhielt sie zur Antwort, »die Bräuche der Stadt der Toten sind ohne Makel. Sie dürfen nicht angezweifelt werden.«
Und: Klick. Die Tür von Phreedoms Zimmer schwingt langsam auf, schlägt hinter ihr zu, als sie auf den Gang tritt, die magnetische Schlüsselkarte aus Plastik in der Hand in der Tasche.
Andere Unkin, das weiß sie, haben andere Methoden, um diejenigen zu finden, die nicht gefunden werden wollen. Manche folgen alten Bräuchen: suchen in Spiegeln einen flüchtigen Blick auf ihre Beute zu erhaschen, entdecken sie an einer Häuserecke unter einem Straßenschild oder sie spüren einen Geruch auf wie Bluthunde, folgen ihm zu Fuß über ganze Kontinente oder lauschen, den Kopf zur Seite geneigt, auf den leisesten Widerhall eines einzigartigen Geräuschs, eines Stimmabdrucks, der über der Atmosphäre schwebt, eine halbe Welt entfernt. Der Cant trägt weit.
Dann gibt es diejenigen, die sich völlig absurder Mittel bedienen – Dinge, die sie selbst erfunden oder wiederentdeckt haben, Medizinkompasse und Geigerzähler, deren Inneres neu verkabelt ist und die scheinbar aufs Geratewohl zwitschern; Palmtops mit in Ternärcode kompilierten Programmen, die konstruiert wurden, um der Geschichte eingeschriebene Namen und Anweisungen auf dem Bildschirm anzuzeigen, bevor es überhaupt Geschichte gegeben hat, die uralten Me auf modernes Trägermaterial geschrieben. Manche suchen sich einfach jemanden, von dem sie glauben, dass er etwas weiß, und reißen ihm die Adresse direkt aus dem Kopf. Phreedom sind diese Methoden nicht fremd.
»Wo ist dein Bruder, Süße?«, hatte er gesagt.
»Ich weiß es
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