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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Elfenbeintürme der Akademiker, lange bevor Mosely das staatlich finanzierte Bildungswesen abgeschafft hat. Jetzt drängen sich darin hauptsächlich die Spelunken und Stammlokale meiner werten Mittaugenichtse. Die Kolonie ist zur Zuflucht jedes Radikalen und Revolutionärs geworden, der einen Groll gegen den stählernen Griff hegt, mit dem die Gilden jedem Mann und jeder Frau im Imperium immer mehr die Luft abdrücken; jedes Rebellen, der das System bekämpfen möchte; und jedes Möchtegernanarchisten, der unter der grandiosen Wahnvorstellung leidet, ein Einzelner könne den Lauf der Geschichte verändern. Will sagen, meine Wenigkeit.
    Hoch über den vereinzelten Lichtpunkten, die die Straßen und Gebäude der Stadt markieren, rasen Gleitbahnzüge durch den Himmel, immer entlang der Kabel, und dabei stoßen sie blaugrünen Orgondampf aus, der die Nacht mit seinem Dunst überzieht. Mir kommt es schon lange paradox vor, dass die wichtigste Energiequelle in einem so prüden und zugleich lüsternen Land zuerst von den tibetanischen Meistern des Tantra nutzbar gemacht wurde — die Energie, die als ›kundalini‹ bezeichnet wird und die wir in ›Orgonenergie‹ umbenannt haben, diese kosmische, mystische, sexuelle Kraft.
     
    Ich ziehe meine silberne Half Hunter-Taschenuhr aus der Jacke, klappe den Deckel auf, um nach der Zeit zu sehen, schließe ihn und lasse sie wieder verschwinden. Die Vorstellung beginnt bald. Die Iron Lady kreuzt riesengroß und hoheitsvoll über den Nachthimmel, der Stadt entgegen, in der sie gebaut wurde, der zweiten Hauptstadt des Imperiums. An Bord befindet sich der Vorsitzende des parlamentarischen Aufsichtsrats von Elizabeth Regina, Königin der Britischen Inseln und Kolonien, Kaiserin von Indien und dem Orient, herrschaftliches Herz der Pax Britannica. Powell ist nicht mehr der Jüngste, aber er ist noch immer eine Gefahr, vielleicht noch mehr als früher.
    Vor ihm selbst habe ich eigentlich keine Angst, nur vor dem Hirnwurm in seinem Kopf, von diesem erbärmlichen kleinen Traum, diesem Mem, das die Fäden in der Hand hält, an denen er baumelt, und das seine kranken Sporen in die leeren Gedanken all der hasserfüllten Huren und Arschlöcher legen will, die zu dämlich sind, um zu kapieren, was da vor sich geht. Die Sprache lebt, mein Freund, Informationen verfolgen Absichten, sie sind bewusstseinsfähig, sie sind in uns, hellwach. Ob wir sie nun Götter nennen oder Dämonen, sie sind die Archonten unserer Welt, diese Scheißhirnwürmer — bei Reden gezeugt, in Zeitungen gehegt, nähren sie sich von unseren Ängsten und Sehnsüchten. Ideen werden nicht geboren, mein Freund. Sie werden gezüchtet. Hinter jedem guten Demagogen steht eine böse Idee. Ich sollte es wissen; ich bin selbst ein Mythos.
    Ein weiterer Blick auf die Uhr. Es ist Zeit.
    Zeit für den Giganten der Lüfte, seinen Jack kennenzulernen.
     
     
    Traumhaftes Kaledonien
     
    »Für Sie ist die Welt ein ausgesprochen feindseliger, bedrohlicher Ort, nicht wahr? Sie haben das Gefühl, nicht hierher zu gehören? Und so leben Sie in einer Phantasiewelt, in der Sie der Held sind. Das ist für Sie wie ... wie eine zweite Haut geworden, nicht wahr, dieser ›Jack Flash‹, ein Panzer.«
    »Klar, dass Sie das glauben. Wie sähe denn die Alternative aus? Dass diese Welt tatsächlich von Mammon und Moloch regiert, buchstäblich von den Göttern der Habgier und der Brutalität beherrscht wird, und Sie alle stehen so sehr unter ihrer Fuchtel, dass Sie nicht einmal mitkriegen, wie sie die Welt um uns herum verändern.«
    »Mammon und Moloch, Jack? Das sind –«
    »Mythen? Metaphern? Was sagt Ihnen das Wort ›Guernica‹, Doktor?«
    Starn zuckt mit den Achseln, schüttelt den Kopf. »Was sollte es mir sagen?«
     
    Jack wendet angewidert den Kopf ab.
    »John Maclean«, sagt er. »Der Völkermord an den Armeniern. Lorca. Hat irgendetwas davon für Sie eine Bedeutung? My Lai?«
    »Jack, eines der Symptome von Schizophrenie wird Apophänie genannt. Damit wird ein Zustand beschrieben, bei dem alles und jedes mit Bedeutung aufgeladen ist. Sie sehen Zusammenhänge, die nicht existieren. So entsteht auch Paranoia; denn irgendjemand, irgendwas muss doch hinter allem stecken. Gott oder der Teufel. Die Regierung. Ihr ›Imperium‹ vielleicht?«
    »Mammon oder Moloch«, sagt Jack.
    »Genau.«
     
    »Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Was sagt Ihnen das Wort ›Guernica‹?«
    »Es sagt mir rein gar nichts. Was ist das? Eine Person? Ein

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