Vellum: Roman (German Edition)
Und er stellt sich Sandy vor, sieht sich selbst als Sandy, eine Art Peter Pan, glücklich, in nicht endenden Tagträumen verloren.
Er bricht durch die letzten Sträucher und springt auf die rissige Asphaltstraße hinunter, die an diesem trockenen Sommertag mit einer Staubschicht bedeckt ist. Dort, wo die Straße in den Dünen verschwindet, steht Guy und wartet.
»Beeilt euch«, ruft er.
»Halt die Klappe, Reynard«, sagte Joey. Er neckt ihn gerne mit dem peinlichen Vornamen, den Guy so sehr hasst. Wirklich, kein Mensch heißt ›Reynard‹. Was für ein bescheuerter Name.
»Halt du doch die Klappe, Narko«, erwidert Guy und revanchiert sich prompt für den Spott. Joey schläft im Unterricht andauernd ein und als Guy ›Narkoleptiker‹ zu ihm gesagt hat, wusste er nicht, was das bedeutet. Also ist es ihm zuwider.
Namen sind wichtig, denkt Jack. Er hat keinen Spitznamen, aber wenn er einen hätte, müsste er ›Flash‹ lauten, wie Flash Gordon aus der Schwarzweißserie, die sie in den Ferien jeden Samstagmorgen in der Glotze zeigen. Das wäre cool.
Die Kolonie
Ich schlüpfe in meine Lederhose (10. Husarenregiment des preußischen Kaiserreichs 1770), in mein schwarzes Kosakenhemd (Alliiertenarmee der Großfuturistischen Republik 1890), in meine Schlangenlederschaftstiefel (Konföderierte Staaten von Texas, 1920) und in meinen Uniformrock (Chinesische Infanterie, persönliche Leibgarde der Queen, 2. Tibetanisches Regiment). Links schnalle ich meine japanische Katana fest, rechts meine Qi-Pistole von Curzon-Youngblood. Zwei Wurfmesser verschwinden lautlos in ihren Scheiden an meinen Stiefeln. Ich ziehe meine Bomberjacke aus heiligem Kuhfell an (Königliche Luftwaffe Ostindiens, 1940), die mit Yetipelz von feinster Qualität gefüttert ist, und darüber meinen Paletot (Freie Ruritanische Partisanen, 1990). Der Rucksack, den ich mir über die Schulter werfe, ist verdammt schwer — Dynamit und aus geheimen Militärbudgets finanzierte Riesenbomben. Schließlich greife ich nach meinen schwarzen Ziegenlederhandschuhen und schlinge mir den weißen Seidenschal um den Hals. Eleganz ist die tödlichste Waffe jedes Attentäters.
Draußen steht die zweite Hauptstadt des Imperiums gerade eine weitere bittere Herbstnacht durch. Straßen und Bürgersteige sind unter Schlamm und Schneematsch begraben; die schmutzigen Sandsteinbauten der Kolonie, all die Mietskasernen und verlassenen Kirchen, werden vom Schein der Halogenlampen erleuchtet. Ich trete hinaus auf das gewaltige Gerüst, das sich durch das ganze Viertel zieht wie das Netz einer wahnsinnigen Riesenspinne, packe eine Stahlstrebe und schwinge mich hinauf zur nächsten und immer weiter, bis ich mich über allem befinde — ich stehe auf dem Dach eines Gebäudes, das einst zur Universität gehörte. Hier draußen in dieser verrückten Welt ist es kalt, aber ich bin dick eingemummt, ich bin bewaffnet und gepanzert, und der Himmel leuchtet in einem prächtigen Purpur. Scharf!
Hier oben auf dem Dach des großen gotischen Turms der Universitätsbibliothek, auf dem Kamm des Hügels, auf dem die Kolonie errichtet wurde (und in den sie hineingebaut wurde — in offen gelassenen U-Bahn-Tunneln und Schächten, wo die Verfolgten und Verzweifelten Zuflucht finden), ist nur der kalte Wind, der von Osten herbeiheult, atemberaubender als der Ausblick. Vor mir erstreckt sich eine schlichte Anlage von Mietshäusern, die fast unter den Gerüsten und Holzstegen begraben sind. Seit einem Jahrhundert wachsen diese Gebilde aus verrosteten Anbauten aus Stahl und Eisen bereits, ganze Straßenzüge sind überbaut worden. Es wäre einfacher, von der Hölle selbst eine Karte anzufertigen. Mein Blick schweift zur Grenze dieses Labyrinths der Diebe und Verräter.
Das breite grüne Band des Kelvinbridge-Parks legt sich um das Viertel und schließt es auf drei Seiten ein — im Norden, Osten und Süden. Die Uferpromenaden, die zerfallenen Mühlen und eingestürzten Viadukte sind herrlich anzusehen. Von den Glaspalästen der Botanischen Gärten im Norden bis zur erhabenen Größe des Kelvinbridge-Museums im Süden ist alles zur Freude der Spaziergänger hell erleuchtet. Drüben im Westen markiert die Byres Road den äußersten Rand des Geländes. Dort stoßen die Klubs und Kaffeehäuser der West— End-Literaten Seite auf die Pfandhäuser und Pornographen der Kolonie.
Einst barg die von Mauern umgebene Landschaft unter mir die möblierten Zimmer der Bohemiens und die
Weitere Kostenlose Bücher