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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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schließlich kennen sie sich nur zu gut mit Hollywoodfilmen und der Regenbogenpresse aus. Es lag nicht daran, dass meine Frau mich betrogen hat und ich die Schlampe gehasst habe. Und mein Chef war auch kein Arschloch und hatte den Tod verdient. Es lag nicht an der Versicherungsprämie oder den Drogen oder daran, dass mich Blut und Gewalt anturnen. Die Stimmen in meinem Kopf sind schuld.
    »Hören Sie Stimmen, Jack?«
     
    »Hören wir nicht alle Stimmen? Die Stimmen der Seele, unserer Vorfahren, unserer Familie und Freunde, unserer Feinde und Dämonen, der Geister in unseren Köpfen, der Geister in der Maschine. Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie sich nicht in einem fort eine kleine Geschichte erzählen, wenn Sie nachdenken? Hatten Sie noch nie eine Diskussion mit einem Freund, die Sie später in Gedanken weitergeführt haben? Haben Sie noch nie im Bett gelegen und dabei mit der Stimme eines anderen Menschen nachgedacht, um eine Sache aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, unter anderen Gesichtspunkten? Wir alle hören Stimmen, Doktor. Die meisten Leute drehen nur die Lautstärke ganz weit runter.«
    Jack beugt sich vor.
     
    »Wenn der Lärm zu groß ist, verstehen Sie, dann können die Affenautomaten den Puppenspieler vielleicht nicht mehr hören. Das kleine Hundchen hört vielleicht die Stimme seines Herrn nicht mehr, Kumpel. Also müssen wir diese anderen Stimmen zum Schweigen bringen. Aber, psst. Man kann sie hören, wenn man nur gut aufpasst.«
    »Und diese Stimmen sagen Ihnen, dass Sie –«
    »Hören Sie. Das ist, wie wenn man an einem Flussufer liegt und schläft – ein Strom plappernder Stimmen, irgendwo zwischen dem Rauschen der Blätter. Narziss schläft und träumt uns alle.«
    Starn lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. Narziss, was? Der Junge, der in sein Spiegelbild im Fluss verknallt war und vor lauter Liebe dahinschwand. Nun, immerhin ist es origineller als der Teufel oder Gott.
     
     
    Der vermisste Junge
    Analyse: Objekt widersetzt sich; abweichende Vorgehensweise erforderlich.
    Operativer Vorgang: Ursprung des Identitätskonstrukts ›Jack Flash‹ aufspüren.
    Imago entdeckt:
    Flammenfarbenes Haar, nicht blond, sondern gelb, orange, rot.
    Jack kann sich noch gut an das Bild auf der Milchtüte erinnern, an den vermissten Jungen — Sandy Thompson — mit seinem kornblumenfarbenen Haar. Ihm wird bewusst, dass der Geist des Jungen seine Phantasie nicht mehr losgelassen hat, seit damals. Seit seiner Kindheit denkt er sich kurz vor dem Einschlafen Geschichten aus, und darin kommt ein Held vor, ein Idol, eine Ikone, die für alles steht, wonach er sich sehnt, für alles, was er gerne wäre. Flash Gordon. Jack, der Riesentöter. Im Spiegel betrachtet er, was er aus sich gemacht hat, und darunter sieht er das Bild auf der Milchtüte, den vermissten Jungen, den Goldjungen.
    Analyse: kompensatorisches Hirngespinst; narzisstische Fixierung.
    Operativer Vorgang: Engrammkontext verstärken; Prägung lokalisieren.
    Erzählstrom aufgespürt .
    Ihre Fahrräder lassen sie im tiefen Gras am Rand der Landstraße zurück, zusammen mit den Lunchpaketen und den Thermosflaschen mit dem Saft, die ihre Mütter ihnen mitgegeben haben. Wie Seiltänzer spazieren sie auf dem großen Stahlrohr über das Feld und über den Fluss. Mit einem Satz landen sie auf den hohen, grasbestandenen Dünen. Das Gelände ist eingezäunt, es gehört zu der Chemiefabrik auf der anderen Seite des Hügels, und so übt es auf sie eine geheimnisvolle Anziehungskraft aus, es unterscheidet sich von der alltäglichen Wirklichkeit. Wo sonst sollten sie nach dem vermissten Jungen suchen? Es war Guys Idee, natürlich. Er sei früher schon einmal hier gewesen, sagt er. Jack stellt sich vor, wie es wäre, wenn sie den Jungen fänden — sie wären Helden!
    »Kommt schon«, sagte Joey und kämpft sich durch das dornige Gestrüpp.
     
    Er hat ein wenig Angst, aber es hat auch seinen Reiz, sich hier auf verbotenes Gelände zu begeben. Der Sand unter ihren Füßen ist weich, sie befinden sich in einem Niemandsland am äußersten Rand ihres nichtigen städtischen Lebens. Vielleicht verirren sie sich sogar, denkt er. Während er sich immer wieder kratzt und aufschreit, läuft er Joey und Guy unermüdlich hinterher und denkt: Was ist, wenn dieser Junge, Thompson, den verborgenen Ort gefunden hat, wo die ganze Welt wie weicher Sand ist, der unter den Füßen nachgibt, und plötzlich ist man woanders ... an einem Ort, wo man Abenteuer erlebt.

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