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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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nach Gestaltung strebt, und bevor ich mir dessen bewusst werde, bin ich auch schon abgelenkt, vergesse, was — was habe ich nur gedacht — alles ist doch prima, so vielschichtig und abgefahren, in all seiner fließenden Symbolik — tja, und ich versuche, sie zu entziffern, und gleichzeitig entziffert sie mich, wirft die Involutionen zurück, all die Strömungen und Wirbel meines eigenen Verstandes. Und während ich den Rorschach-Test betrachte, in ihn hineinschaue, sehe ich —
     
    »Nichts.«
    »Es erinnert Sie an nichts?«
    »Nein. Nur an einen Tintenklecks.«
    Starn mustert ihn über den Tisch hinweg. Wieder verspürt er dieses sonderbare Unbehagen angesichts des Einwegspiegels in seinem Rücken, diese fortwährende Scheißüberwachung.
    »An überhaupt nichts?«
    »Nee.«
    »Sie können überhaupt keine Formen erkennen, wenn Sie den Tintenklecks betrachten? Es fällt mir schwer, das zu glauben, Jack. Sie machen auf mich nicht den Eindruck eines phantasielosen Menschen.«
    »Haben Sie jemals LSD genommen?«
    »Nein. Was hat das –«
     
    »Also gut. Ich verfüge durchaus über Phantasie. Ich könnte einen Tintenklecks anstarren und einen Schmetterling sehen –«
    »Also sehen Sie in dem Klecks einen Schmetterling?«
    » – oder eine Fledermaus. Wenn es ein Schmetterling ist, wie kann es dann eine Fledermaus sein? Wenn es eine Fledermaus ist, wie kann es dann ein Schmetterling sein? Aber wenn es nur ein Tintenklecks ist, dann kann es – mit etwas Phantasie – einfach alles sein.«
    Starn schließt den Aktendeckel über dem Schwarzweißbild. Eine sinnlose Übung.
    »Was möchten Sie mir damit sagen, Jack?«
    »Schatten und Spiegelungen. Du schaust in sie hinein und siehst, was du sehen willst, was du dir wünscht, was du fürchtest. Das steckt doch hinter dem Tintenklecks, nicht wahr? Doktor, ich brauche Ihren verdammten Tintenklecks nicht. Mir genügt schon ein Blick in den Spiegel. Sagen Sie mir – Reinhardt, nicht wahr? –, was sehen Sie, wenn Sie in den Spiegel schauen?«
    Starn schüttelt den Kopf, wendet sich dem Spiegel zu, die Arme ergeben ausgebreitet.
    »Jack, ich sehe nur –«
    Doch in dem Stuhl, in dem Jack sitzen sollte, sitzt ein englischer Offizier, und im Spiegel trägt Starn eine SS-Uniform.
     
     
    Irgendetwas stimmt nicht
    Analyse: Ausweichmanöver erfolgreich.
    Operativer Vorgang: Scan nach Riss in der Realität neu initiieren; metaphysischen Übergriff bestätigen.
    Eine nach der anderen legt er die Tarotkarten auf den Tisch, mit der Bildseite nach unten, vier in einer Reihe und dann weitere vier darunter. Er verwendet nur die großen Arkana — das Cagliostro-Tarot; das sind die einzigen, mit denen er etwas anfangen kann, die ihm Ideen eingeben. Vielleicht noch ansatzweise die Bildkarten der kleinen Arkana — wahrscheinlich, so vermutet er, weil auf ihnen tatsächlich Bilder zu sehen sind, weil sie visuelle Chiffren sind, symbolische Kunstwerke, und nicht willkürlich zugeordnete Bedeutungen. Die Karo vier steht für Reisen? Die Kreuz acht für schlechte Investitionen? Was für ein Haufen Scheiße.
    Er dreht die Karten um, eine nach der anderen, ganz langsam.
     
    Der Tod — kein Problem, schließlich ist es nicht der eigentliche Tod, sondern nur der metaphorische, der für spirituelle Veränderung steht. Der Gehängte — das Opfer. Die Ewigkeit. Irgendetwas stimmt hier nicht. Die Straße. Irgendetwas irritiert ihn. Beim Tarot gibt es keine Ewigkeit. Und keine Straße.
    Auf der einen Karte ist ein grünes Feld zu sehen, zwei Krähen sitzen auf einem Zaun, ein blonder Junge rennt durch den Weizen. Auf der anderen Karte führt eine gerade Straße durch die Wüste, und auf der Straße steht ein Mann mit einem Buch unter dem Arm, neben einem Karren, hält sich die Hand vor die Augen, um nicht von der sengenden Sonne geblendet zu werden; ein Hund folgt ihm auf den Fersen. Zwei Tarotkarten, die es gar nicht gibt.
    Er dreht die anderen vier Karten um, schnell, eine nach der anderen, noch eine und noch eine. Die vier Buben. Er verwendet nur die großen Arkana.
    Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht.
     
    »Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagt er.
    »Du bist völlig meschugge, Kumpel«, sagt Joey. »Das stimmt nicht.«
    »Spürst du es nicht? Überhaupt nicht? Kommt dir nicht irgendetwas sonderbar vor?«
    »Ich spüre eine Erschütterung in der Macht«, sagt Joey mit gespielt rauer und dröhnender Stimme und schnippt einen noch nicht angezündeten Joint quer durchs Zimmer zu

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