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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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dass du mit jemandem darüber reden solltest. Lass dir helfen.«
    Joey Pechorin. Im Augenblick sieht er aus wie das fünfte Mitglied der Ramones, die langen dunklen Haare hängen ihm ins Gesicht. Jack dagegen hat sich Johnny Rotten zum Vorbild genommen. Es ist 1979, und die Hexe, die ihnen die Schulmilch weggenommen hat, ist gerade zur Premierministerin gewählt worden. In den asiatischen Gemüseladen wurde letzte Woche eine Brandbombe geworfen und die Schaufenster mit ›Pakis raus‹ und ›BNP‹ zugesprayt: British National Party, die britischen Nationalisten. Allmählich wird das Leben in diesem Scheißland zur Hölle — das behauptet Guy jedenfalls, aber Jack weiß es besser. Sie befinden sich bereits in der Hölle. Sie müssen nur den Ausgang finden.
     
    Jack steht auf der Straße, die nirgendwoher kommt und nirgendwohin führt, und schiebt die Spitze des Brecheisens unter den Rand des Kanaldeckels auf dem Betonzylinder.
    »Sie existieren wirklich«, sagt er. »Auch wenn es sie nicht gibt. Es sind Geschöpfe des Es. Aus dem Unterbewusstsein der Allgemeinheit. Lebende Information.«
    Joey packt ihn, zieht ihn von dem Kanaldeckel weg, um ihn zu schütteln, bis er wieder zu Verstand kommt.
    »Du bist das, Jack. Nur du. Von da« — er tippt sich gegen die Schläfe — »von da kommen sie, aus deinem verdammten Kopf.«
    »Ich weiß«, sagt Jack. »Aber ... sie kommen auch aus deinem Kopf.«
    Und er beugt sich über den Betonzylinder, verlagert sein Gewicht auf das Brecheisen und reißt die Wirklichkeit weit auf.
     
    Es ist 1979, und während sich der Archetypus in seinem Körper ausbreitet, spürt er ihn, als ströme der Glanz und die Glorie eines Engels oder eines Dämons durch seine Adern. Da steht er, über einem Loch im Gefüge der Welt, und blickt in den Abgrund hinab, in die Flut schwarzen Staubs, ins schwarze Blut toter Götter, in die Vergangenheit und in die Zukunft und bis ans Ende von beidem. Joey brüllt auf ihn ein, zieht ihn vom Rand zurück, aber Jack hört nur das wunderschöne Lied der Bitläuse, während wir ihn mit unserem Zauber gefangen nehmen, Geschichten in Geschichten über uralte Mächte und künftige Apokalypsen erzählen, über zahllose Tode, zahllose Geburten, ein Lied von Mördern und Helden und von einem Feuer, das kalt in seinen Gedanken lodert. Wir singen von einer Stadt am Ende aller Zeiten und von einem Buch, in dem alles geschrieben steht, und wir singen von Konventen und Rebellen, Krähen und Königen, wir singen von Liebe und Kummer, von Fleisch und Worten, denn daraus sind wir gemacht, wir Bitläuse aus Blut und Tinte, aus Nacht und Träumen, die wir die Sehnsüchte und Ängste ersinnen, die unterhalb eurer Gedanken dahintreiben, sogar eure Gedanken selbst. Sanft gleiten wir unter eurer Haut dahin. Für uns heißt du Jack.
    Es ist 1999, und Jack Flash lächelt den Arzt auf der anderen Seite des Tisches an. Diese Leute haben ja keine Ahnung, was es bedeutet, über ›Selbstbeherrschung‹ zu verfügen.
    Analyse: Objekt leistet Widerstand.
    Operativer Vorgang (dringend geboten): Nach einem Riss in der Realität suchen; metaphysischen Übergriff bestätigen.
    Die Haare flammenfarben — nicht blond, sondern gelb, orange und rot. Er betrachtet sich im Spiegel, ganz Narziss, blickt sich selbst in die Augen, in denen sich sein eigenes Spiegelbild spiegelt, ein dunkles Abbild seiner selbst, ein Ich im Ich, eine Psyche in der Psyche. In seinem Kopf lauert etwas.
    Hallo Joey, denkt er. Lange nicht gesehen.
    Achtung: Überwachung aufgeflogen.
    Notfallprozedere.
    Operativer Vorgang: Kodename Tintenfisch.
    Der Tintenklecks
     
    Einen Moment lang lasse ich mich aus der Reserve locken, erfasse den Schatten in meiner bewussten Wahrnehmung und gestatte ihm, in den umlaufenden Spiegeln meines Verstandes einen Blick auf sich selbst zu werfen. Nur für einen Augenblick, aber, verdammte Scheiße, ein Augenblick könnte ebenso gut eine Ewigkeit sein, wenn man es mit den Hirnwürmern zu tun hat, mit den verdammten Bitläusen. Ich reiße mein Bewusstsein wieder an mich, winde mich wie ein Scheißgymnast, in der Hoffnung, dass er nicht zu viel gesehen hat, und —
     
    Der Tintenklecks, rabenschwarz und an den Rändern mitternachtsblau, hat sich gleichmäßig über die weiße Karte ausgebreitet, wogende Wolken aus sich kräuselndem Dunst. So, wie er sich vor mir auf dem Tisch darstellt, bleibt mir keine andere Wahl, seine Formlosigkeit muss mich einfach faszinieren, die Art und Weise, wie sie

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