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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Metu
     
    »Was sehen Sie, wenn Sie in den Spiegel schauen?«
    Beinahe hätte Starn sich umgedreht, aber dann lächelt er nur und schüttelt den Kopf.
    »Schatten. Spiegelungen. Sie reden da über etwas, das wir das ›Unterbewusste‹ nennen, Jack. Haben Sie das Gefühl –«
    »Also sind Sie Freudianer?«
    »Wie bitte?«
    »Das ›Unterbewusste‹, und nicht das ›Unbewusste‹. Interessante Wortwahl. Ich halte es mehr mit Jung. Es gefällt mir nicht, von einem Teil meines Gehirns als ›untergeordnet‹ zu denken. Das ›Unbewusste‹ ist egalitärer.«
    »Nun ja, Jack, in meinem Fachgebiet konzentrieren wir uns nicht so sehr auf diese Aspekte der Psychologie – auf unterschiedliche Theorien, Namen, Definitionen. Welche Begriffe man genau verwendet, ist eigentlich gar nicht so wichtig. Unsere Einstellung ist da ... pragmatischer.«
    »Begriffe sind ausgesprochen wichtig, Reinhardt. Begriffe haben Macht über uns. Namen definieren uns. Definitionen binden uns. Unsere heiligsten Geheimnisse sind in Worte gefasst. Reinhardt.«
    Analyse / Informationen werden hochgeladen: Objekt bewaffnet und gefährlich. Suche nach bekannten Verbrechern / Flüchtlingen angeraten.
    Operativer Vorgang (dringend geboten): grundlegende Identität, Name, Nummer, Geburtsdatum des Objekts ermitteln.
    Er sitzt da, mit dem Rücken zu der rauen Backsteinmauer, die ihn vor dem Wind schützt, schnippt das Zippo auf und zu, auf und zu —klang, klick, klang, klick, klang, klick. Vor ihm steht ein Schuhkarton mit beschriebenen Blättern — Notizen und Diagramme, Theorien und Extrapolationen, schizoidem Geschwafel und pubertärer Philosophie. Die obersten Seiten flattern in der Brise, sodass er sie mit etwas beschweren muss. Er kramt in der Innentasche seiner Lederjacke, in der sich sein Bowiemesser befindet — in den schwarzen Griff sind die Worte Nec Spe, Nec Metu gekratzt: ›Weder Hoffnung noch Furcht.‹ Er rammt das Messer in den Papierstapel, dreht und drückt mit aller Kraft, stößt dabei auf größeren Widerstand als erwartet. Er fragt sich, ob Fleisch auch so zäh wäre, und vermutet, wahrscheinlich eher nicht.
    Diesem kleinen Haufen Wörter und Bilder hat er sich mit Leib und Seele gewidmet — eine Studie seiner dem Wahnsinn verfallenen Einbildungskraft, über fünf Jahre hinweg, Analyse auf Analyse, Exegese auf Exegese. Er findet, dass er sich inzwischen ziemlich gut durchschaut hat und genau weiß, wie er tickt.
    Klang, klick, klang, klick, klang.
    Krank.
    Burn, baby, burn.
    Achtung: Objekt unnachgiebig.
    Operativer Vorgang (dringend geboten): grundlegende Identität, Name, Nummer, Geburtsdatum des Objekts ermitteln.
    »Wer bist du?«
    Er zischt sein Spiegelbild an, das Ding, das er in seinem Kopf spüren kann, das Ding, das er Jack Flash nennt, das Ding, das er hinter sich stehen sieht. Manche Leute werden von Dämonen heimgesucht. Herrgott, und er hat das Gefühl, in seinem Kopf hausen sämtliche Bewohner des Himmels und der Hölle. Hallo, Leute ... in meinem Kopf wird eine Party gefeiert und alle sind eingeladen. Vergesst eure Streitaxt nicht.
    »Wer bist du?«
    Am liebsten würde er den Spiegel zerschlagen und sich mit einer Scherbe den Hals aufschlitzen. Scheiß auf die Handgelenke. Das ist kein Scheißselbstmord. Das ist ein Opfer, etwas in ihm möchte unbedingt sterben, etwas anderes verzehrt sich vor Sehnsucht nach Blut. All den Mächten, die ihn zu zerreißen drohen, kann er sich nicht widersetzen. Er ist kein cooler Typ. Er ist kein knallharter Bursche. Er ist nicht Guy. Er ist nicht Joey. Er ist nicht Jack Flash. Er weiß nicht mehr, wer er ist. Als wäre sein altes Ich tot. Er ist tot. Ist das verrückt?
    »Wer bist du?«
    Aber da drin ist nichts.
     
    »Siehst du?«, sagt Joey. »Verdammte Scheiße, da ist nichts. Es ist nur ein beschissenes Loch in der Erde. Ein Einstieg in die Kanalisation.«
    Er wendet sich bereits ab und geht davon, lässt den Betonzylinder hinter sich und schüttelt den Kopf.
    »Meinst du?«, sagt Jack. Er blickt in die Finsternis hinunter, die bis an den Rand des Lochs heraufreicht — als würde sie gleich überschwappen — eine Finsternis, die weit hinabreicht, ins Bodenlose, die vielleicht kein Ende nimmt.
    »Ich glaube, da lauert der Tod«, sagt er.
    Joey bleibt stehen.
    »Oder eine Traumwelt«, sagt Jack. »Oder das verdammte Quantenchaos. Ich glaube, das ist der Scheißkaninchenbau, der ins Wunderland führt. Das Scheißtor zur Hölle, die Scheißpforte der Wahrnehmung. Das ist der

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