Vellum: Roman (German Edition)
Leine gelassen — etwas, das in seinen Worten heult, ein Wirbelwind, ein wütender Wolf.
Verdammte Scheiße, aber er fühlt sich wie neu geboren, wie ein Engel oder ein Dämon, wie etwas anderes, etwas Älteres, etwas Neueres. Er spürt es in den Knochen. Vielleicht ist er verrückt, irgendetwas hat seinen Verstand berührt — der Tod vielleicht —, aber er kann es spüren. Er kann den Ruf der Kreaturen spüren, deren Gesang ihre vielgestaltigen Brüder herbeiruft, um auf den Schlachtfeldern der Ewigkeit oder des Daseins für sie zu kämpfen, und die ganze Menschheit ist ihr Kanonenfutter. Und er weiß, dass er auf der Schwelle zu zwei Welten steht, mit einem Fuß auf der Erde und mit dem anderen im flüssigen Licht der Träume. Und niemals werden sie ihn zu einem ihrer Hunde des Krieges machen.
Achtung! Informationen werden hochgeladen: ein einzelgängerischer Unkin; keinem Bündnis zugehörig; ausgesprochen gefährlich.
In den unausgesprochenen Teilen der Unterhaltung, in den ungeschriebenen Wahrheiten eines Zeitungsartikels oder eines Buches, im weißen Rauschen des alltäglichen Lebens kann er dennoch die Ordnung spüren, das Muster, den Plan. Er sieht, wie sich die Welt der Unkin in die Wirklichkeit hinein ausweitet, nach und nach, sodass einem durchaus entgehen kann, wie aus einem Siedlungsbauvorhaben ein Gefängnis wird, aus einem Personalausweis eine Ausreisegenehmigung. Die Regenbogenpresse ruft dazu auf, Pädophile kastrieren zu lassen. Terroristen werden in Lager gesteckt. Faschisten sitzen in Stadträten, im Parlament, im Kabinett. Letzte Woche haben sie die Todesstrafe wiedereingeführt, und außer ihm ist das niemandem aufgefallen.
Noch ist er sich nicht ganz klar darüber, was da vor sich geht, aber er weiß, dass diese Welt nur ein kleiner Ausschnitt dessen ist, was die Unkin ›Vellum‹ nennen — Falten der Wirklichkeit, die sie mit Worten gestalten; und vielleicht waren sie anfänglich sogar voller guter Absichten und haben dann irgendwann den Überblick verloren, aber er weiß jetzt, wozu sie fähig sind. Dann ist er eben schizophren. Oder prophetisch veranlagt. Mit seherischen Gaben geschlagen.
Aber er wird die Wichser finden, die seine Welt zu ihrem kleinen Imperium machen, und wenn er dazu die ganze Scheißwirklichkeit auseinanderreißen muss.
Die Traumzeit ist abgelaufen
Operativer Vorgang: verstärken und fokussieren; Verbindungen herstellen.
Erzählstrom aufgespürt:
Jack nimmt das Buch vom Bibliotheksregal — Das Ewige Stundenbuch von Guy Reynard Carter. Der Name des Autors gefällt ihm — denn er heißt selbst Carter, und Reynard klingt wie ›Reinecke‹, der Fuchs in den Märchen, der stets Böses im Schilde führt — und der Titel auch, Das Ewige Stundenbuch klingt bedeutsam und geheimnisvoll. Für beeindruckende und geheimnisvolle Geschichten hat er eine Schwäche. Aber das Buch ist ziemlich klein gedruckt, und er gelangt zu der Feststellung, dass es wohl für Erwachsene geschrieben sein muss. Also wirft er nur einen kurzen Blick hinein und stellt es dann wieder zurück. Er wischt sich die Hände, die von dem alten Buch ganz staubig geworden sind, an der Hose ab und geht wieder in die Kinderabteilung zurück.
»Sie sind nichts Besonderes, Jack«, sagt Starn. »Sie sind nicht auserwählt. Sie sind kein Held. Sie leiden unter paranoider Schizophrenie. Sie glauben, von Gott einen Auftrag erhalten zu haben, aber in Wirklichkeit töten Sie Menschen!«
Analyse: irrelevant; Objekt irrational/immun.
Operativer Vorgang: Nach sämtlichen Verbindungsmännern/Rebellen und Operationsbasis suchen.
Und er sieht mit an, wie sich die Welt um ihn herum verändert, wie das Trugbild unterhalb der Wirklichkeit zu Tage tritt und schließlich die Wirklichkeit unterhalb des Trugbilds: nicht das Dasein, nicht die Ewigkeit, sondern etwas, das aus den Ruinen von beiden geschaffen wurde. Welten über Welten, eine ganze verdammte Traumzeit. Er weiß nicht, wer dahintersteckt, aber er weiß, dass sie da sind. In jedem Kopf jedes Menschen in dieser Stadt, in der Welt an sich, in jedem Schatten und jeder Spiegelung. Etwas, das so alt ist wie die Zeit und so finster wie die Hölle, zwingt der Welt eine neue Gestalt auf, formt die Träume, die den Gedanken zugrunde liegen, die wiederum den Taten vorausgehen, die der Welt Gestalt verleihen. Und baut ein Imperium auf.
»Es gibt kein verborgenes Imperium, Jack. Das wissen Sie. Sie müssen sich der Wirklichkeit stellen. Dieser ›Jack Flash‹ ist nur
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