Vellum: Roman (German Edition)
gereicht haben, auf dem Boden, während sie einander anstupsen und sich auf dieses oder jenes aufmerksam machen, auf Blätter oder Grashalme, den Karren, mich, die anderen Stammesangehörigen, die in weiter Ferne die Köpfe zusammenstecken, sichtlich verwirrt, nachdem ihr Schamane sie im Stich gelassen hat. Jack und Puck nehmen die Welt um sich herum in Augenschein, neigen die Köpfe und kichern, eine Pilz- und Teegesellschaft für Schimpansen.
Ich wundere mich, dass Jack, der von der Gegend, die wir durchqueren, so entsetzliche Angst hat, angesichts des gespenstischen Grauens, das aus den Tiefen seines Geistes in sein halluzinierendes Gehirn kriecht, noch nicht den Verstand verloren hat. Andererseits habe ich ihn bereits in den unterschiedlichsten Rauschzuständen gesehen und bisher hatte er noch keinen einzigen schlechten Trip. Um ehrlich zu sein, sind die beiden ein Bild der Glückseligkeit.
Ich greife mir drei der Schädel heraus und lege sie in einer Reihe vor mich hin, froh darüber, für einen Moment Ruhe zu haben und nachdenken zu können. Mir ist schon eine ganze Weile klar, dass der Tod im Vellum ebenso zu Hause ist wie in der Wirklichkeit, die ich hinter mir gelassen habe – unabhängig davon, in welches Jenseits ich hier geraten bin. Im Übrigen kam es mir schon immer ziemlich unsinnig vor, dass dieses Jenseits, das sämtliche Religionen heraufbeschwören, mit Lebensformen bevölkert sein soll, die der fassbaren Welt so ähnlich sind, dass sie Augen haben, um zu sehen, und Münder, um zu sprechen, und Hände, mit denen sie Harfe spielen, und Flügel, um zwischen den Wolken herumzufliegen. Aber vor den tatsächlichen Gegebenheiten der Anatomie des menschlichen Körpers schrecken sie zurück, und wenn es um Sex und Tod geht, drucksen sie verlegen herum. ›Et In Arcadia Ego‹ steht auf dem Grabstein, den Poussins Schäfer in den idyllischen Hügeln ihrer Weidegründe entdeckt haben, und hier in den Ausläufern des Mount Oblivion scheinen wir einen ähnlich symbolischen Grabstein gefunden zu haben. Er steht für den Tod mitten in der Ewigkeit und vor diesem hat der arme, einfältige Jack solche Angst.
Was bedeutet der Tod im Jenseits der Seelen?, frage ich mich. Was bedeutet der Tod im Vellum?
Das Buch liegt aufgeschlagen vor mir, und ich betrachte es gebannt, folge den Umrissen von Mount Oblivion, lausche auf die Klage des Windes, der sich im Rand der Grube verfängt, hinabfährt und sich um die Schädel windet wie ein makabres Holzblasinstrument. Und plötzlich weiß ich eine Antwort.
6
Ein Wiederhall Iapetos’
Kur
Inzwischen befinden wir uns ein gutes Stück hinter den feindlichen Linien und fortwährend in Gefahr, schreibt Pechorin. Im nächsten Moment kann sich die sowjetische Faust um uns schließen und uns wie Insekten zerquetschen. Manchmal bete ich darum, dass das geschieht. Dann könnte ich ihnen erklären, ich sei ein Gefangener der Faschisten, meine Frau und meine Familie würden als Geisel festgehalten und ich würde gegen meinen Willen gezwungen, den Feind durch mein Vaterland zu führen. Aber als Weißrusse ist mir klar, dass für mich keine Hoffnung besteht. Sie würden in mir nur den Verräter, den Kollaborateur sehen. Ich weiß, dass ein Teil von mir sie freiwillig bis an ihr Ziel geleitet, aber ein anderer Teil meiner Seele wehrt sich mit aller Kraft dagegen. Warum führe ich sie immer weiter? Vielleicht habe ich das Gefühl, dass ich zurückkehren und mich der Vergangenheit stellen muss.
Carter gefällt sich in der Haltung eines Opfers. Aber ich bemerke die Verachtung, mit der er uns alle ansieht, und ich kenne die Macht, die er hierher mitgebracht hat, die Macht, über die wir alle verfügen — diejenigen, die zurückgekehrt sind. Vielleicht leitet mich der Wissensdurst, das Bestreben, diese Macht zu verstehen. Carter dagegen will die Vergangenheit einfach nur vergessen, sie begraben ... und uns mit ihr? Er achtet immer noch sehr darauf, was er zu Strang sagt, und ich vermute, dass er alle Möglichkeiten sorgfältig abwägt. Während wir uns dem Eingang der Höhle nähern, frage ich mich, ob er nicht bereits Vorbereitungen für sich getroffen hat, die mir entgangen sind.
29. März 1921. Heute hat der Professor sein Geheimnis gelüftet, uns seine Lüge und das wahre Ziel unserer Suche entdeckt. Die ›Große Stadt im Norden‹ ist nicht Aratta. Wie ich schon vor einer ganzen Weile immer wieder gesagt habe, befinden wir uns zweihundert Meilen nördlich einer
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