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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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ist es deswegen noch lange nicht wahr.«
    »Jack, du verdrehst alles. Das ist einfach nur ...«
    »Ich weiß«, sagt er. »Aber gestern Abend hat es mir eingeleuchtet. Fast jedenfalls.«
    Ich setze mich wieder auf die Bettkante.
    »Möchtest du fernsehen?«, fragt er.
     
     
    Zwei im Tee, ein Baum für Zwei
     
    Anscheinend ist Jack von Puck ziemlich angetan. Mir vertraut er leider kein bisschen, aber übel nehmen kann ich ihm das nicht, zieht man in Betracht, dass ich hier auf dem Karren sitze, umgeben von ungefähr einem Dutzend Schädeln, die wir ausgegraben haben. Wie ein Ungeheuer mit seinem entsetzlichen Schatz. Darunter könnten sich auch seine Vorfahren, Landsleute, geliebte Verwandte oder wer weiß was befinden. Ich versuche, die Geschichte dieses Ortes zu ermessen, aber sie bleibt unergründlich. Mount Oblivion ist in dem Buch verzeichnet, in weiten schwungvollen Umrissen, die eher dem Kontinente umspannenden Maßstab der Isobare auf einer Wetterkarte entsprechen als den kleinen Gipfeln eines Mount Everest oder Olympus Mons. (Angesichts der Größenordnungen hier im Vellum stumpfe ich zusehends ab, fürchte ich; auf mich wirkt das alles ziemlich plump und großspurig, wie die Gespräche kleiner Kinder über den Rüstungswettlauf, wenn sie auf die Ebene von ›unendlich mal unendlich‹ und ›unendlich hoch zwei‹ und ›unendlich hoch unendlich, ätsch‹ zurückfallen.) Allerdings finden sich keine Anzeichen dafür, dass diese Gegend bewohnt ist – keine gestrichelten Linien für alte Straßen, keine Schriftzeichen, die auf Orte von historischem Interesse hinweisen. Meine einzigen Hinweise sind die Schädel und das Entsetzen, das sie bei Jack auslösen; und erstere schweigen – von dem leisen pfeifenden Raunen des Windes in der Grube einmal abgesehen – ebenso hartnäckig, wie letzterer seinem Unmut lauthals Luft macht. Ich hoffe nur, dass Puck ihn dazu bringen kann, lange genug die Klappe zu halten, damit ich endlich einmal mehr als eine Stunde Schlaf finde.
     
    Während der vergangenen Woche ist es ihm gelungen, den armen Kerl ein wenig zu beruhigen. Jacks Gesang klingt weniger wild, wenn Puck ihm Süßigkeiten und andere hübsche bunte Sachen mitgibt; auch wenn ich nicht eben glücklich darüber war, dass er als erstes ›Geschenk‹ eine silberne Taschenwünschelrute erhielt, die für gewöhnlich in meiner Hosentasche steckte. Plötzlich baumelte sie an ihrer Kette vor seiner Nase, Puck hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger, bis Jack sie zu fassen bekam. Ich musste zweimal hinsehen, klopfte meine Hosentasche ab und schaute dumm drein, während ich versuchte, meinen Ärger in Worte zu fassen. Der Taschendieb zuckte nur die Achseln und sagte, ihm sei aufgefallen, dass Jack die Wünschelrute immer wieder neugierig angestarrt habe. Außerdem wies er mich darauf hin, dass Jack jetzt hinter einem Busch kauerte und das Gehäuse leise auf und zu schnappen ließ – klang, klick  –, anstatt seinen üblichen Krawall zu veranstalten. Während der nächsten Stunden war er sogar so ruhig, dass mir auffiel, wie allgegenwärtig die anderen Geräusche hier oben waren – es knarrte und krachte, raschelte und rumpelte immer lauter, je höher wir auf unserem kurvenreichen Weg den Mount Oblivion hinaufgelangten.
    Dank der verschiedenen Schmuckstücke und Schmankerl, mit denen Puck sich bei ihm einschmeichelt, können wir uns tatsächlich immer wieder kurzfristig von Jacks Geheul erholen, mit dem er ansonsten unablässig die Tragödie bejammert, deren Überreste unter unseren Füßen begraben liegen mögen und die er anscheinend riechen oder auf andere Weise erspüren konnte. Mit jedem Geschenk vertraut Jack dem Jungen mehr, und inzwischen frisst er ihm buchstäblich aus der Hand. Ich glaube, es waren die Drogen, mit denen er ihn endgültig für sich gewonnen hat.
     
    Ich blicke zu ihnen hinüber – sie sitzen Seite an Seite auf einem niedrigen Ast, lassen die Beine baumeln und reichen den Joint hin und her. Gelegentlich streckt Jack die Hand aus, sucht Pucks grünen Haarschopf nach Flöhen oder Zecken ab und wirkt jedes Mal enttäuscht, wenn er keine findet. Immer wieder tippt er mit einer Fingerspitze auf Pucks spitze Hörner und gluckst eine wortlose Frage. Puck bläst Rauchringe, und Jack wedelt mit den Händen darin herum. Irgendwie ist das süß, zumindest auf eine dekadente Art. Vergessen liegt der leere Blechbecher, aus dem sie beide vorhin noch getrunken, den sie wie den Joint hin und her

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